Im Schulalltag ahnen Lehrerinnen und Lehrer oft nur, was in verhaltensauffälligen Kindern vorgeht, welche familiären Erfahrungen sie prägen und welche Ängste und Traumata sie zu verarbeiten haben. Die ZDFneo-Serie SAFE nimmt uns mit auf die Reise in die Biografien von Kindern und Jugendlichen. Die beiden Kinder- und Jugendtherapeuten Katinka und Tom führen in Berlin eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie. In der Serie begleiten wir vier ihrer Klientinnen und Klienten über mehrere Monate: Die sechsjährige Ronja, die im Kindergarten andere Kinder beißt und eine besonders enge Beziehung zu ihrem Vater hat, den achtjährigen Jonas, der sich mit dem nahenden Tod eines geliebten Menschen auseinandersetzen muss, die 15-jährige Nellie, die unter Panikstörungen leidet, und Sam, ein jugendlicher Straftäter, der von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht wird.
Ein Meisterwerk des psychologischen Films
Täglich sitzen sie im Klassenzimmer vor uns: Kinder mit massiven psychischen Problemen. Einblick in die Verletzungen dieser Kinder gibt Oscar-Gewinnerin Caroline Link in der Serie SAFE, die uns in Therapiestunden zweier Kinder- und Jugendtherapeuten mitnimmt.
Annähern und Öffnen geht nicht auf Knopfdruck
Wir beobachten, wie mit Elementen aus der Gesprächs-, Verhaltens- und Spieltherapie Stück für Stück, Therapiestunde für Therapiestunde, langsam eine Atmosphäre des Vertrauens und der Nähe entsteht. Sicherheit fühlen, ernst genommen zu werden, sich zu öffnen gegenüber einem fremden Erwachsenen – das geht nicht auf Knopfdruck. Es verlangt Zeit und Geduld. Caroline Link nimmt uns mit auf diesen Weg. Das weitgehende Fehlen einer Handlung ist eine enorme dramaturgische Herausforderung. Link meistert sie grandios. Wenn man anfangs Sorge hat, es könnte langweilig werden, sich auf eine achtteilige kammerspielartige Serie einzulassen, die weitgehend aus Dialogen besteht, so passiert genau das Gegenteil: Man wird buchstäblich hineingezogen in diesen Prozess des sich langsam Annäherns, des sich Öffnens der Kinder.
Das Eintauchen in die biografischen Welten der Kinder Sitzung für Sitzung öffnet einen tiefen Einblick in ihre Gefühle und Wahrnehmungen, die gewiss für viele ihrer Altersgenossen stehen. Von Folge zu Folge wird dieser Prozess spannender, wobei die langsame Annäherung der beiden Therapeuten an die Kinder mit Fragen und kurzen Anmerkungen besonders faszinierend zu beobachten ist. Ihre Fragen und Anmerkungen sind nie fordernd oder übergriffig, sondern immer einfühlsam und zugewandt. Die Kinder und Jugendlichen spüren, dass sie als Menschen geachtet und akzeptiert werden. Das schafft die Voraussetzung für den therapeutischen Erfolg. Auch wenn die professionelle Distanz immer vorhanden ist, so ist doch deutlich spürbar, dass ohne Vertrauen keine Therapie möglich ist.
Prägnant, einfühlsam, intensiv
Die Dialoge – Link hat auch das Drehbuch geschrieben, sich dabei aber die Unterstützung einer Kinderpsychotherapeutin geholt – sind alles andere als ermüdend. Sie entwickeln im Lauf der Folgen eine beeindruckende Dichte und Intensität. Kurz, prägnant und einfühlsam kreisen sie um die Erfahrungen der Kinder. Wenn die Kinder und vor allem die Jugendlichen ihrer Realität ausweichen oder sich gar verweigern, ob aus Scham, Schuldgefühlen oder Trotz, dann holen sie die Therapeuten Katinka und Tom immer wieder neu zurück und machen ihnen Mut, sich selbst zu sehen und zu verstehen. Die Dialoge zeigen aber auch die Komplexität therapeutischen Handelns und das dünne Eis, auf dem sich Therapie bewegt. Falsche Folgerungen, Fragen und Schlüsse können das Erreichte an Vertrauen schnell zunichtemachen. Ein enorm spannender Prozess, den die preisgekrönte Regisseurin meisterhaft darstellt.
Caroline Link ist bekannt dafür, dass sie wie kaum eine bzw. ein anderer Regisseur in Deutschland und vielleicht sogar weltweit mit Kindern und jugendlichen Darstellern arbeiten kann. Sie stellt dies mit dieser Serie erneut unter Beweis. Kinder und Jugendliche sind in ihrer Darstellung in höchstem Maße glaubhaft und authentisch - angefangen bei der sechsjährigen Ronja (Lotte Shirin Keiling) bis zum sechzehnjährigen Sam (Valentin Oppermann). Ebenso überzeugen die beiden Therapeuten, die von Judith Bohle (Düsseldorfer Schauspielhaus) und Carlo Ljubek gespielt werden.
Zurecht von der Kritik gefeiert
Besonders erwähnenswert sind auch die großartige Kameraführung von Bella Halben (Tatort, Das Tagebuch der Anne Frank, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) und der Schnitt von Simon Gstöttmayr (Tatort, Der Junge muss an die frische Luft).
In der Kritik wurde Links Werk durch die Bank hochgelobt. Die SZ schreibt (9.11.2022): „Sehenswert macht die erste Dramaserie von Caroline Link vor allem zweierlei: Ihre Kunst der Schauspielerführung … und die fabelhaften Dialoge, die sie geschrieben hat.“ Die WELT resümiert (8.11.22) „Caroline Link hat mit Safe eine Liebeserklärung an Kinder und Jugendliche geschrieben.“ Und im Oberbayerischen Volksblatt/Münchner Merkur heißt es: „Diese Serie sollte uns allen verschrieben werden. Als perfekte Medizin gegen das, was unsere Gesellschaft immer kranker macht: Fehlende echte Kommunikation und Zugewandtheit.“
Nach den großen Erfolgen der beiden Kinofilme „Der Junge muss an die frische Luft“ (2018) und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (2019) brilliert Caroline Link mit einem weiteren Meisterwerk.
Die Serie SAFE ist zu sehen in der ZDF-Mediathek: » www.zdf.de/serien/safe