Heterogenität und Inklusion
Immer wieder müssen wir an den Schulen mit viel zu knappen Ressourcen jonglieren und oft genug auf Kosten der Kinder und Jugendlichen. Damit muss Schluss sein! Wir brauchen die Inklusion, die Integration und die individuelle Förderung! Für 45 Prozent der befragten Grundschullehrkräfte ist die Heterogenität der Klassen die größte tägliche Herausforderung. Und 51 Prozent sehen weiterhin den Personalmangel als größtes Problem. 77 Prozent sagen, dass Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in einer inklusiven Beschulung nicht die benötigte Unterstützung erhalten. Diese Zahlen kann und darf man nicht relativieren und schon gar nicht einfach hinnehmen. In unserer Vielfaltsgesellschaft muss Heterogenität wertgeschätzt werden. Dafür fehlt uns aber Personal und Zeit. Es fehlt an Differenzierung und individueller Förderung und es fehlt an multiprofessionellen Teams, die genau das unterstützen!
Gewalt an Schulen
Das Verhalten vieler Schülerinnen und Schüler fordert die Lehrkräfte zunehmend heraus, denn immer mehr Kinder sind mit den Herausforderungen in ihrer Familie und in der Gesellschaft überfordert und kanalisieren ihre Ohnmacht in aggressives an ihrer Schule Probleme mit psychischer und/oder physischer Gewalt gibt. An Schulen in sozial benachteiligter Lage ist der Anteil sogar noch deutlich höher, nämlich bei 69 Prozent.
Ein gewaltfreies Miteinander ist aber keine Aufgabe der Schule allein, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es braucht Raum für die Thematisierung und Auseinandersetzung mit Konflikten. Empathie, Toleranz, Respekt und Konfliktfähigkeit müssen gelernt werden. Das ist ganzheitliche Bildung und die ist eben mehr als Rechnen und Schreiben. So schön es ist, dass die PISA-Offensive wichtige Kernkompetenzen ins Visier nimmt – soziale und emotionale Kompetenzen sind aber mindestens genauso wichtig und bleiben mal wieder außen vor. Aber wenn es um die Unversehrtheit der Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte geht, kommen wir mit Beschönigungen nicht weiter.
Berufliche Zufriedenheit und Belastungserleben
Der Personalmangel, die Zunahme an Gewalt an Schulen und das Gefühl, den Schülerinnen und Schülern nicht gerecht werden zu können, belastet die Lehrkräfte enorm – und das zeigt sich klar an der emotionalen Erschöpfung insbesondere unter Lehrerinnen und in Grundschulen.
Über ein Drittel aller Befragten fühlt sich mehrmals in der Woche emotional erschöpft. Ein Ergebnis, dass endlich wach rütteln sollte. Denn unter diesen Umständen ist es wenig überraschend, dass sich ein Viertel der Lehrkräfte aktuell einen Berufswechsel vorstellen kann. Statt die Situation weiter klein zu reden, sollte seitens der Politik alles dafür getan werden, den Lehrkräften die notwendige Unterstützung zu bieten und engagierte Lehrkräfte im System zu stärken. Die Gefahr, dass immer mehr von ihnen den Beruf verlassen und der Lehrkräftemangel sich weiter verschärft, ist nicht von der Hand zu weisen. Hier kann nur mit konkreten Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Lehrberufs gegengewirkt werden. Doch wenn sich etwas ändern soll, müssen wir endlich die Realität akzeptieren und Taten folgen lassen. Ansonsten werden wir in den kommenden Jahren dabei zusehen können, wie sich die Situation an Schulen weiter verschlimmern wird.
So wichtig die wissenschaftliche Analyse der Situation auch ist, letztlich zählt, was daraus gemacht wird. Mit politischen Endlos-Diskussionen oder populistischen Schnellschüssen kommen wir hier nicht weiter.
Sparen wir uns das Beschönigungs-Theater und gehen wir es endlich an!
Deutsches Schulbarometer 2024: Überforderung, Gewalt und Bildungsungerechtigkeit – wann wacht die Politik endlich auf?
Das Deutsche Schulbarometer 2024 belegt wieder einmal, was Lehrkräfte seit langer Zeit predigen. Die Lehrkräfte stehen unter einem enormen Druck. Da hilft es auch nicht, die Situation in Bayern zu beschönigen. Denn wenn es nach der Politik geht, ist in Bayern ja alles immer viel besser als anderswo. Am Ende ist es egal, ob man den Blick auf Deutschland oder Bayern wirft. Die Herausforderungen sind überall da und es geht immer um die Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler und um die Bildung, die am Ende leidet. Und es geht um die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Politik muss jetzt endlich Verantwortung übernehmen, statt immer wieder routiniert zu beschönigen.
Factsheets zum Deutschen Schulbarometer
Pressemitteilung des BLLV-Dachverbandes VBE
Medienberichte
Simone Fleischmann gegenüber der Bayerischen Staatszeitung:
Zu den Herausforderungen besonders an Mittelschulen:
"Da sind die Kinder, die sich eh als Verlierer sehen.“
Das sei unabhängig vom Migrationshintergrund, betont Fleischmann und weist auf den an Mittelschulen besonders stark ausgeprägten Mangel an pädagogischem Personal hin.
Die BLLV-Präsidentin weist zudem auf die Bedeutung von Präventionsarbeit hin. Dafür bräuchten Lehrkräfte aber mehr Zeit und Unterstützung durch Fachpersonal wie Psychologen und Jugendpolizisten.
Zur Mitnahme von Waffen in Schulen:
"Wir sind kein rechtsfreier Raum. Das muss sofort angezeigt werden. Priorität hat die Unversehrtheit der Kinder."
Simone Fleischmann gegenüber der Passauer Neuen Presse im Wortlaut:
„Gewalt an Schulen kannte man früher vor allem bei Pausenhof-Schlägereien von Schülern. Heute sehen Kinder in sozialen Medien wie TikTok Vorbilder, die sich oft in Ton und Taten vergreifen. Auch bei Erwachsenen ist das der Fall, wenn man sich ansieht, wie Politiker auf öffentlichen Bühnen mit ihrer abwertenden Wortwahl ebenfalls die Grenzen des Sagbaren überschreiten. Das färbt dann auf Kinder und Jugendliche ab.“
„Die Gewalt kommt überall vor: an Förderschulen, Gymnasien und sogar an Grundschulen.“
„Verbale Übergriffe und bedrängende Situationen nehmen in der Schule zu. Viele Erwachsene sind politikverdrossen und haben kein Vertrauen mehr in Staatsdiener, die Lehrer nun mal sind.“
Zu den Folgen der Corona-Pandemie:
„Das war ein einschneidendes Erlebnis, wo die Kinder ohne Klassensetting und Sportkurse bestimmte soziale Situationen nicht lernen konnten, zum Beispiel wie man mit Stress umgeht und resilient wird. Außerdem haben sich viele Schüler zurückgezogen und verbringen auch nach der Pandemie lieber ihre Zeit alleine und vor dem Computer.“
Zum Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Hintergrund:
„Besserverdiener können ihren Kindern Nachhilfe und Sportkurse ermöglichen, wodurch diese resilienter werden. Wer hingegen zwei Jobs gleichzeitig machen muss, dem ist das nicht möglich.“
Simone Fleischmann weist außerdem drauf hin, dass durch die Zunahme von Gewalt mehr Lehrkräfte ausfallen, durch frühzeitige Pensionierungen und mehr Krankheitstage, „besonders im Bereich Burnout“. Der Beruf des Lehrers verliert an Attraktivität.
So werden die Aussagen von Simone Fleischmann im Wortlaut wiedergegeben:
«Kinder mit mannigfaltigen Krisen wissen sich oft nicht anders zu helfen», sagt Simone Fleischmann, Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Ein großes Problem seien Gewaltdarstellungen im Netz. «Wir müssen dieses Gewaltpotenzial im virtuellen Raum in die Schulen reinholen, über Verfehlungen sprechen.» Elternhäuser seien beim Thema Medienerziehung oft ein Komplettausfall.
Weitere Berichte:
Main-Echo | Bayerische Staatszeitung
Antje Radetzky - Schulleiterin und Leiterin der Abteilung Berufswissenschaft im BLLV - im Wortlaut bei SAT.1:
"Schon Zweitklässler nutzen Schimpfwörter, die ich mich in meiner Grundschulzeit nicht getraut hätte zu benutzen, und beleidigen damit ihre Mitschüler zum Beispiel. Und es ist insgesamt ein rauerer Umgangston geworden. Wir versuchen zwar entgegenzuwirken, aber die Schule allein kann das vor allem mit so wenig Personal nicht auffangen."
BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Wortlaut bei SAT.1:
"Die Kinder sind überfordert mit der aktuellen Situation und gehen physisch und psychisch nicht gut miteinander um. Wir hatten das früher auch immer Verhaltensauffälligkeiten genannt. Das nützt uns jetzt aber nichts. Die Kinder sind so, wie sie sind. Das heißt, du musst deinen Unterricht unterbrechen, du musst auf diese Störungen eingehen. Du musst reflektieren, was ist mit den Kindern los? Du musst den Einzelnen abholen, du musst Gespräche führen (...)."
Simone Fleischmann im Wortlaut bei news4teachers:
"Statt die Situation weiter klein zu reden, sollte seitens der Politik alles dafür getan werden, den Lehrkräften die notwendige Unterstützung zu bieten und engagierte Lehrkräfte im System zu stärken. Die Gefahr, dass immer mehr von ihnen den Beruf verlassen und der Lehrkräftemangel sich weiter verschärft, ist nicht von der Hand zu weisen. Hier kann nur mit konkreten Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Lehrberufs gegengewirkt werden. Doch wenn sich etwas ändern soll, müssen wir endlich die Realität akzeptieren und Taten folgen lassen. Ansonsten werden wir in den kommenden Jahren dabei zusehen können, wie sich die Situation an Schulen weiter verschlimmern wird."
Zur Frage, ob Kinder Angst haben müssen, weil sie ihr Kind an einen gefährlichen Ort schicken:
„70% der Kolleginnen und Kollegen, die in Schulen in benachteiligten Lagen arbeiten, sagen, dass sie täglich physische oder psychische Gewalt unter den Kindern erleben. Das Problem verschärft sich, aber das wundert uns nicht: Wir wissen das, auch ohne jeden Tag eine neue Untersuchung zu sehen. Wichtig ist diese Forsa-Umfrage, weil wir die politisch Verantwortlichen ins Handeln bringen müssen. Denn wir schaffen viele Themen, die in der Gesellschaft im Argen liegen, in der Schule nicht mehr. Schule ist Spiegel der Gesellschaft. Wenn Hass und Hetze im Netz und auch der respektlose Umgang untereinander in der Gesellschaft zunehmen, dann zeigt sich das auch in der Schule.“
Zur Frage, ob Lehrkräfte das Problem nicht ohne Politik lösen könnten:
„Die Frage, 'Was macht ihr Lehrerinnen und Lehrer kurzfristig in der Schule?', ist die falsche. Es geht nicht, solche Zahlen in einer politischen Endlosschleife zu diskutieren und dann polemische oder populistische Schnellschüsse rauszuhauen. Wir brauchen die Politik an unserer Seite, denn wir reißen es nicht mehr alleine. Wir brauchen die Eltern mit im Boot. Wir brauchen die Gesellschaft mit im Boot und wir brauchen mehr Geld im Schulsystem, weil wir mehr Aufgaben haben bei immer weniger Leuten. So kann es einfach nicht weitergehen. Wir stehen als Lehrerinnen und Lehrer ohnehin jeden Tag vor neuen Problemen. Und dann heißt bei aktuellen Zahlen die Forderung: Macht halt mehr Intervention oder Prävention. Wir schaffen das aber nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen sind massiv überfordert. Wir haben die PISA-Ergebnisse gesehen. Wir sollen mehr Kompetenzen an die Kinder heranbringen. Jeden Tag erfindet ein Politiker ein neues Fach, eine neue Herausforderung. Nein, wir können nicht immer mit der gleichen Personaldecke, die seit Jahren viel zu eng ist, gerade an den Grund-, Mittel- und Förderschulen, das auch noch immer zusätzlich stemmen. Nein!“
Zur Forderung von Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger an die Bundesländer, das Problem zu lösen:
„Es bringt nichts, wenn es die einen auf die anderen schieben und die nächsten auf die nächsten. Am Ende ist es dann die Lehrerin an der Schule, die mit einer Schlägerei umgehen muss, alleine vor 27 Kindern steht, den Druck hat, dass hier in Bayern der Übertritt alles beherrscht. Und die Eltern sagen: 'Verdammt noch mal, warum prügeln sich die hier und warum machen sie nicht mehr Rechnen, Lesen, Schreiben?' Wir sind vor Ort die, die alles ausbaden müssen. Natürlich muss Bayern aber reagieren. Natürlich muss Bayern im Föderalismus, mit der Länderhoheit bei der Bildung, jetzt Mittel zur Verfügung stellen. Wir Lehrerinnen und Lehrer sind es leid. Immer wieder sage ich das Gleiche: Wir brauchen Multiprofessionalität, wir brauchen mehr Schulpsychologen in der Schule, wir brauchen auch unbedingt Sozialarbeit. Wir brauchen eine enge Zusammenarbeit mit den Jugendpolizisten. Ja, wir wollen das Thema annehmen. Aber einer alleine, der vielleicht nicht mal mehr Lehrer ist in der Klasse, wird das nicht schultern.“
Zur Frage, ob abseits der finanziellen Mittel das benötigte Personal überhaupt verfügbar wäre:
„Es studieren einfach viel zu wenige. Hier bräuchte es eine Attraktivitätssteigerung des Lehrberufs. Wenn wir alle miteinander Fachkräftemangel haben, dann haben wir natürlich auch bei den Berufsgruppen, die wir in der Schule bräuchten, Mangel. Was bleibt uns dann übrig? Dann können wir nur Verantwortlichkeiten teilen, Aufgaben reduzieren und Themen fokussieren. Und deswegen geht es eben nicht, zu sagen: ‘Um Gottes willen, wir haben hier erschreckende Zahlen, was die Gewalt zwischen Schülerinnen und Schülern angeht. Lehrerin, löse es!‘ Nein, mit dieser Vorstellung müssen wir aufräumen. Die Schule kann nicht alles lösen. Wir haben Lehrkräftemangel, wir haben Fachkräftemangel und deshalb müssen wir Aufgaben reduzieren. Und deshalb müssen wir vielleicht auch mal etwas schuldig bleiben.“
Auf die Frage, ob man Kindern also Pfefferspray in die Schule mitgeben solle:
„Aufrüsten ist ganz sicher keine Lösung. Es geht darum, dass Kinder, die gewalttätig sind, Erfahrungen machen im Leben, mit denen sie nicht zurechtkommen. Unter Pädagogen ist klar: Wer Probleme hat und gewalttätiges Verhalten zeigt, kommt aus einer Situation, die er nicht mehr bewältigen kann. Die Kinder haben große Herausforderungen. Die Armutsquote steigt auch in Bayern. Wir haben Kinder, deren Eltern nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist. Wir haben eine Gesellschaft, in der die Demokratie kippt, in der Hass und Hetze unterwegs sind. Wir haben einfach ein großes Herausforderungspotenzial an alle Kinder und es wächst weiter und dann ist es doch kein Wunder, dass Kinder nicht mehr so resilient sind, nicht mehr so viele Möglichkeiten haben, mit Gewalttaten reflektiert umzugehen, sondern Konflikte manchmal mit Gewalt angehen. Und wenn ich mir manche Politiker anschaue, dann lösen die Konflikte auch nicht empathisch und auch nicht transparent und auch nicht respektvoll, sondern hauen da volle Kanne rein. Und das ist im übertragenen Sinne das, was die Kinder jetzt auch tun. Wir brauchen uns nicht zu wundern. Wir müssen alle zusammen – die Eltern, die Lehrer und die Gesellschaft – daran arbeiten, dass es wieder einen respektvolleren Umgang miteinander gibt.“
Zur Frage, was Eltern sonst konkret beitragen können:
„Was Eltern tun können, ist sensibel mit dem umgehen, was ihr Kind erzählt. Mal mit der Lehrerin sprechen. Das eigene Kind resilient machen und ermuntern: ‘Immer, wenn dir irgendwas schräg vorkommt in der Schule, sprich bitte mit der Lehrerin, sprich bitte mit den Lehrern, erzähl es mir.‘ Wir müssen zusammenarbeiten und eben nicht Pfefferspray mitgeben. Wir wollen als pädagogische Institution in der Schule einen Schonraum bieten. Wir wollen den Kindern beibringen, wie sie in Zukunft Themen und Konflikte so lösen, dass sie eben nicht denken, Gewalt anwenden zu müssen. Ich muss hier noch mal ganz klar sagen: Wir sind eine pädagogische Institution. Wir sind diejenigen, die die Gesellschaft von morgen vorbereiten, Probleme eben ohne Gewalt zu lösen. Wir können nicht die Eltern scharfmachen und sagen, sie müssen ihre Kinder aufmunitionieren. Sondern sie müssen hinhören. Wir müssen gemeinsam, wenn es Probleme gibt, diese thematisieren. Und dann können wir – soweit es halt irgendwie personell geht – gemeinsam für das Kind Lösungen finden. Wenn wir mehr wären, wäre das allerdings deutlich leichter …“