In Bayern basiert die Übertrittsempfehlung in der 4. Klasse auf dem Durchschnitt der drei Noten der Schülerinnen und Schüler in den Fächern Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht. Aus Sicht des BLLV ist diese starre Orientierung, die neben Bayern nur noch Sachsen durchzieht, nicht geeignet für eine altersgerechte, valide und faire Zuweisung der Schülerinnen und Schüler auf die weiterführenden Schularten.
Simone Fleischmann, die Präsidentin des BLLV, betont: „Die Stellen nach dem Komma entscheiden heute in Bayern erstmal über den weiteren schulischen Weg eines neun- oder zehnjährigen Kindes. Dieses Prinzip widerspricht einem modernen Menschenbild, der kindgerechten Ermöglichung von Bildungs- und Lebenschancen ebenso, wie den Prinzipien einer individuellen Sicht auf die Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern. So sorgt dieses System für eine weiter wachsende Ungerechtigkeit im bayerischen Bildungssystem. Die negativen Auswirkungen auf das Lernverhalten und die psychische Gesundheit bei vielen Kindern und deren Familien erleben die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen jeden Tag. Und Corona hat diese Effekte weiter verstärkt. Dass die Politik nicht einmal in dieser Ausnahmesituation in der Lage ist, die starren Muster zu verlassen und vom klassischen und eh schon nicht validen Übertrittszeugnis abzurücken, ist mir persönlich ein Rätsel und für alle Schülerinnen und Schüler an den Grundschulen hier in Bayern und ihre Familien ein schlechtes Zeichen für die Zukunft.“
Ganzheitliches und zeitgemäßes Leistungsfeedback
Simone Fleischmann weiter: „Es geht dem BLLV nicht darum, die Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler und ihre Leistung zu senken, Leistung nicht zu fordern oder keine Rückmeldung zu geben, sondern Schule und Leistungsfeedback zu modernisieren, zu individualisieren und ganzheitlich zu sehen. Die Übertrittsempfehlung auf Basis von drei Noten macht keine Aussage über das Können oder das Potenzial der Kinder als Ganzes – mit all ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten die sie haben und für ihr zukünftiges Leben wirklich brauchen. Für was macht dann die Note 2,33 oder die 2,66 Sinn? Für eben die Verteilung im System. Sie erhält das dreigliedrige – ja eigentlich viergliedrige – bayerische Schulsystem um jeden Preis. Das aber ist nicht Ziel von Schule – das aber kann doch nicht das Ziel der Grundschule sein – das kann und darf doch nicht der Sinn des Lernens und Leistens der Schülerinnen und Schüler sein – nicht in der 4. Klasse und eigentlich nie. ‚Learning for the test‘ – bis zum Tag der ‚Verkündung‘: das darf nicht sein!“
Viele Schülerinnen und Schüler sind mit dem Leistungsdruck, dem Lernpensum, der Art des Feedbacks – oftmals eben reduziert auf Noten – und dem Lernrhythmus überfordert. Gleichzeitig werden viele Kinder von ihrem familiären Umfeld bestärkt und gefördert, während anderen diese Unterstützung fehlt. Dass es so nicht weitergehen kann zeigen auch die vielen Anrufe von Eltern beim BLLV. Dazu gehören Eltern, die sich Vorwürfe machen, weil sie ihrem Kind nicht ausreichend beim Lernen zu Hause helfen konnten oder Eltern, die ihr Bestes gegeben haben und trotzdem mitansehen müssen, dass es nicht für die gewünschte Schulart reicht. Das führt zu Dramen in den Familien! Das kann auch das hohe Engagement von Lehrern und Lehrerinnen nicht ausgleichen. Nicht in einem unterversorgten System – nicht mit diesem eklatanten Lehrermangel, bei dem Förderlehrer die Klassenleiter ersetzen, Fachlehrer ganze Klassen oder am besten gleich zwei Klassen gleichzeitig unterrichten, Schulpsychologen Mangelware sind, erfahrene Kollegen und Kolleginnen alle Seiten- und Quereinsteiger und die Willkommenskräfte und Brückenbauer einarbeiten, Schulleiter zum Gesundheitsmanager, Integrationspolitiker zum Menschenfänger werden, um den Lehrermangel vor Ort aufzufangen.
„Und auch die Durchlässigkeit des Schulsystems in späteren Jahren kann diesen Nachteil kaum beheben. Die schulische Laufbahn darf weder vom Bildungsstand des Elternhauses noch deren finanziellen Möglichkeiten abhängig sein“, so Fleischmann weiter. Allen Beteiligten müsse doch jetzt wirklich bewusst sein, dass Erfolg und Misserfolg beim Übertritt nach der 4. Jahrgangsstufe immer noch besonders vom Umfeld abhängen.
Plädoyer für einen Weg der individuellen Bewertung und Förderung
Zwar wurden seitens der Politik vor allem unter den Voraussetzungen der Corona-Pandemie die Vergabe von Noten und die Prüfungskultur überdacht. Am Ende ergaben sich daraus aber nur marginale Änderungen, die teils auch kritisch diskutiert wurden, wie z.B. die Reduktion der Proben in der vierten Klasse. Denn durch weniger Noten hat jede einzelne ein noch größeres Gewicht in der Gesamtbewertung.
Der BLLV plädiert deshalb dafür, die Verantwortung für den Übertritt der Entscheidung von Eltern zu überlassen, begleitet von der professionellen Einschätzung durch die Lehrerinnen und Lehrer, die die Kinder und deren Wünsche und Potenziale kennen. Ein Weg, den schon viele Bundesländer in Deutschland erfolgreich gehen. So können Fähigkeiten und Kenntnisse umfassend bewertet sowie die Faktoren Sozialkompetenz, Persönlichkeitsentwicklung und Arbeitshaltung verantwortungsvoll und individuell berücksichtigt werden.
Dazu Simone Fleischmann: „Wir erwarten von der Politik mehr Vertrauen in die Eltern und in die Professionalität von Lehrerinnen und Lehrer. Wir können unsere Kinder einschätzen, wir wissen, was sie können und welche Schulart für sie geeignet ist. Im Gegensatz zum starren Festhalten an dieser ‚Schnittpolitik‘ wäre das ein Vorgehen, das Kindern eine faire Einschätzung unter Berücksichtigung ihrer gesamten Persönlichkeit bietet.
Übrigens: Das ist nur eine kurzfristige Forderung, um Bildungschancen auszugleichen. Längerfristig wäre eine – vom BLLV schon seit Jahrzehnten geforderte – längere gemeinsame Schulzeit die zukunftsweisendere Antwort auf diesen ungerechten Übertritt nach der 4. Jahrgangsstufe der Grundschule.
So könnten Kinder dann ihre Potenziale wirklich ganzheitlich entwickeln und individuell gefördert und gestärkt werden.“