BLLV: Amokläufer bleiben meist lange unauffällig, bis sich ihre aufgestauten Aggressionen plötzlich Bahn brechen. Müssten Lehrkräfte nicht noch sehr viel intensiver auf ihre pädagogischen Aufgaben vorbereitet werden, um frühzeitig Warnsignale und psychische Probleme erkennen zu können?
Gisela Mayer: Leider erfahren angehende Lehrer über dieses Thema während ihrer Ausbildung nichts. Das haben mir viele bestätigt. Dabei müssten sie in diesem Bereich unbedingt besser geschult werden. So könnte man extremen Gewalttaten rechtzeitig erkennen und verhindern. Man darf auch den Lehrern nicht noch mehr Unterrichtstunden und Lernstoff aufbürden, sondern muss ihnen den zeitlichen Raum geben, damit sie sich um ihre Schüler kümmern können.
Sollte man nicht zusätzlich verstärkt Schulsozialpädagogen und –psychologen einstellen, um die Lehrkräfte zu entlasten?
Das ist sicher nicht falsch, aber nicht das wichtigste. Ich plädiere eher dafür, den Pädagogen einzubeziehen. Er ist derjenige, der täglich mit dem Schüler umgeht und der deswegen am ehesten auch sein Umfeld beurteilen kann.
Inwieweit kann das Schulklima dazu beitragen, dass Gewalttaten erst gar nicht passieren?
Das Schulklima ist das A und O für das Entstehen, aber auch Verhindern von Gewalttaten. Mit ihm verhält es sich wie mit einer Pferdeherde. Pferde haben ihre Freude daran, um die Wette zu laufen. Aber auch das Pferd, das zuletzt ankommt, ist ein voll akzeptiertes Mitglied der Herde. Wir aber neigen dazu, denjenigen, der am Ende ankommt auszugrenzen, ihm zu sagen, er ist ein Looser. Das ist eine Art des Wettbewerbs, die nicht stattfinden darf.
Sie haben einmal gesagt, sie vermissen bei vielen Schülern das Mitgefühl für andere. Warum?
Mitgefühl bedeutet, das Gefühl im Gesicht das anderen und damit meine eigenen Grenzen zu erkennen. Dieses Gefühl haben Kinder häufig nicht mehr. Das liegt daran, dass sie es zu Hause nicht mehr lernen, und auch daran, dass wir Mitgefühl in den Schulen gar nicht belohnen. Wir belohnen denjenigen, der sich durchsetzt, der besonders gute Noten hat, der besonders viel Leistung bringt.
Wie schätzen Sie das Schulklima an den deutschen Schulen ein?
Ich höre mehrheitlich Klagen darüber. Aufgrund der Struktur unseres Bildungssystems ist das Schulklima sehr auf Leistung und Selektion fixiert, würdigt aber nicht die Leistungsfortschritte des Einzelnen. Die Schüler bekommen ständig verdeutlicht, was sie alles nicht können. Wir sagen das aber nicht Erwachsenen, sondern jungen Menschen, die sich entwickeln und die sich in der Pubertät auch über das Urteil der anderen definieren. Eine Leistungsbeurteilung wird so zum entscheidenden Faktor.
Zugespitzt formuliert: Produziert diese Art von Schule, wie sie sie beschreiben, potenzielle Gewalttäter?
Wenn dieses System nicht aufgefangen wird durch menschliche Zuwendung und eine positive Form der Leistungsbewertung, dann ja. Wenn ich den Wert der Person über eine normierte Leistungsbewertung definiere und diese Leistung ist nicht gut, gebe ich diesem Schüler zu verstehen, dass er ein Versager ist. Das fördert Aggression.
Müsste sich nicht auch die Einstellung von Eltern zu Noten ändern?
Das Elternhaus ist ein wichtiger Faktor. Eltern überbewerten die Schulleistung oft, weil sie Angst davor haben, dass ihr Kind, für das sie das Beste wollen, scheitern könnte. Sie wollen, dass es den bestmöglichen Schulabschluss schafft, damit es möglichst viele Chancen im Leben hat. Da in unserem Schulsystem die Entscheidung über den künftigen Bildungsweg sehr früh getroffen werden muss, stehen Eltern unter einem immensen Druck und geben ihn an das Kind weiter.
Sollte man dann nicht auf eine so frühe Verteilung auf die unterschiedlichen Schularten nach der vierten Klasse verzichten?
Das wäre sehr, sehr gut. Als Mutter halte ich es für zu früh, die Entscheidung über den künftigen Bildungsweg schon in der Grundschule zu treffen. Abgesehen davon verzichten Sie auf eine gewaltige Ressource. Wenn sie die Kinder weiter gemeinsam lernen lassen würden, dann hätten sie nebenbei eine hervorragende Schulung von Sozialkompetenzen. Derjenige, der sich schneller entwickelt, ist in seinem täglichen Schulleben aufgefordert, dem Schwächeren zu helfen. Nirgendwo kann man Sozialkompetenz so wunderbar üben.
Kann ein Ausbau der Ganztagsbetreuung bei der Vorbeugung von Gewalttaten helfen?
Die Ganztagsschule ist weder unser Verderben noch die Lösung aller Probleme. Es kommt dabei sehr auf die Qualität des Ganztagsangebots an. Wenn Kinder dort nur aufbewahrt werden, wäre das falsch. Ein Schüler, der gemobbt wird und den ganzen Tag in diesem Umfeld ausharren muss, kann in dieser Zeit nicht in den Sportverein, wo er womöglich Anerkennung bekommt. Das heißt, Schule erhält durch Ganztagsangebote sehr viel mehr Einfluss auf die Entwicklung des Jugendlichen. Dieser Verantwortung muss sie aber auch gerecht werden.
Zur Person:
Gisela Mayer ist Sprecherin des „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“. Als vor knapp drei Jahren, am 11. März 2009, ein Amokläufer an der Albertville-Realschule 16 Menschen tötete, verlor sie die ältere ihrer beiden Töchter, die damals als Referendarin an dieser Schule arbeitete. Gisela Mayer ist Mitbegründerin des Aktionsbündnisses.
Am vergangenen Mittwoch referierte Sie im Rahmen der BLLV-Veranstaltungsreihe „Kamingespräche“ in der Geschäftsstelle über die Bedingungen für die Entstehung von Gewalt und wie sie verhindert werden kann.
Soziale Ausgrenzung erzeugt Gewalt - Buchvorstellung