Je länger die Coronakrise andauert, desto stärker kommt eine Diskussion auf, ob die drastischen Maßnahmen des Lockdown überhaupt verfassungsgemäß sind oder eine Erosion unseres demokratischen Systems einleiten. Überlagert wird diese legitime und notwendige Debatte von Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Regierungen, in denen sich um die Freiheitsrechte besorgte Bürger mit Verschwörungstheoretikern, rechts- und linksradikalen Kräften und Esoterikern aller Couleur vermengen.
All dies nehmen selbstverständlich auch unsere Schülerinnen und Schüler, gleich welchen Alters, wahr. Das wirft bei vielen von ihnen Fragen auf: Was ist dran an den Behauptungen, die ganze Krise sei nur inszeniert, die wissenschaftlichen Befunde und Ratschläge der Virologen in Wirklichkeit falsch, die Reaktionen auf die Krise reine Panikmache oder gar das Werk von sinisteren Verschwörern?
Schule ist der Ort für offene und faire Diskussion
Schule bietet hier gerade in Zeiten, in denen trotz der allmählichen Lockerungen die Zahl von Sozialkontakten immer noch geringer ist als normalerweise, die Chance, den Kindern und Jugendlichen Orientierung zu vermitteln. Allerdings ist hier, wie stets bei strittigen Themen, viel Fingerspitzengefühl vonnöten. Ist eine Lehrkraft tatsächlich zur Neutralität verpflichtet? Darf sie ihre Meinung äußern? Wie soll sie sich in politischen Diskussionen verhalten? Welche Äußerungen können nicht mehr toleriert werden?
Schule, so viel ist sicher, ist kein politikfreier Raum. Sie ist vielmehr der ideale Ort für Schülerinnen und Schüler, sich mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen, sich zu informieren und eine Meinung zu bilden. Dort können sie erleben und damit lernen, wie in einer freien und offenen Gesellschaft auch kontroverse Themen fair diskutiert werden.
Erinnert sei deshalb hier noch einmal an die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens. Bereits 1976, als die Zeiten in Deutschland ähnlich aufgeregt waren wie heute, einigten sich Politikwissenschaftler aus allen politischen Lagern im sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ auf drei Prinzipien, die für die Behandlung politischer Themen im Unterricht gelten müssen, von denen zwei für die Behandlung der aktuellen Auseinandersetzungen von Bedeutung sind:
- Das Überwältigungsverbot
Lehrkräfte dürfen Schülern niemals durch manipulative Darstellung von ihrer eigenen politischen Meinung überzeugen wollen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass Schülerinnen und Schüler nicht indoktriniert werden, sondern sich mit Hilfe des Unterrichts ein eigenes Urteil bilden können. Das bedeutet aber nicht, dass die persönliche Meinung der Lehrkräfte nicht erkennbar sein darf. Sie darf aber nicht dominierend im Vordergrund stehen.
- Das Kontroversitätsgebot
Lehrkräfte sind dazu verpflichtet, Themen, die in der politischen Diskussion kontrovers sind, auch im Unterricht kontrovers darzustellen. Es sollen also immer auch Argumente der Gegenseite angeführt werden.
Schutz der Demokratie geht vor
Wenn man den Beutelsbacher Konsens eng auslegt, müssten im Politikunterricht auch rechts- oder linksextreme Positionen behandelt werden. Deshalb wird er meistens ergänzt durch den Zusatz, dass Lehrkräfte die Verpflichtung haben, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen und damit die obersten Grundwerte der Demokratie zu schützen. Damit sind die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenwürde und das Demokratieprinzip gemeint. Lehrkräfte dürfen also gar nicht neutral sein, wenn Positionen geäußert werden, die dieses Wertegerüst infrage stellen. Sie sind vielmehr dazu aufgefordert, klar Stellung zu beziehen und unsere Grundordnung zu verteidigen.
In der täglichen Praxis ist die Einhaltung dieser Prinzipien selbstverständlich immer eine Gratwanderung, die das ständige Abwägen zwischen Positionierung und Zurückhaltung erfordert. Der Beutelsbacher Konsens gibt also nur einen sinnvollen Rahmen, der jedoch von jeder Lehrkraft in ihrer Professionalität gefüllt werden muss. Dazu braucht es ebenso Fingerspitzengefühl wie professionelle Reflexion.
Grundrechte konkurrieren grundsätzlich miteinander
Insbesondere die Entscheidung, welche von Schülerinnen und Schülern geäußerten Meinungen noch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind, und ab wann sie gegen die Grundordnung verstoßen, fällt nicht immer leicht. So darf ein Lehrer sicher nicht einschreiten, wenn ein Schüler erklärt, für ihn seien die Maßnahmen des Staates zur Eindämmung des Corona-Virus überzogen. Allerdings ist es durchaus erlaubt und auch gewünscht, in einem solchen Fall mit der Klasse die Argumentationsstruktur manch überzogener und radikalisierter Aussagen zu besprechen und auf deren Widersprüche und grobe Vereinfachungen hinzuweisen.
Insbesondere bedeutet eine solche Diskussion auch die Chance, zu verdeutlichen, dass Grundrechte niemals uneingeschränkt und absolut gelten, sondern immer miteinander in Konkurrenz stehen. So endet die Freiheit jedes Menschen selbstredend da, wo durch diese Freiheit zum Beispiel das Recht auf Unversehrtheit des Lebens anderer berührt wird. Genau deshalb existieren bei uns Tempolimits und Waffenverbote.
Persönliche Meinung als solche kennzeichnen
Grundrechte werden also permanent eingeschränkt. Allerdings muss diese Einschränkung verhältnismäßig und legitim sein. Dies ist immer das Ergebnis eines Abwägungsprozesses, bei dem es absolut legitim ist, auch kontroverse Ansichten zu äußern.
Eine Lehrkraft muss es also aushalten, wenn Schüler abweichende Meinungen äußern. Die Lehrkraft muss vor allem sicherstellen, dass auch die jeweilige Gegenseite thematisiert wird. Entweder durch andere Schüler oder, falls dies nicht passiert, durch die Lehrkraft selbst. Selbstverständlich kann die Lehrkraft - und sollte sogar - ihre eigene Meinung äußern. Allerdings muss immer klar sein, dass es sich um die eigene persönliche Meinung handelt, und es legitim ist, eine andere Sichtweise zu haben.
Argumentieren statt bloßstellen
Häufig wird man bei solchen Diskussionen auch mit Behauptungen aus Verschwörungstheorien oder teilweise schlichtweg falschen – teilweise sogar absolut falschen – Behauptungen konfrontiert. In einem solchen Fall hilft es wenig, Schüler wegen solcher Äußerungen zu beschämen. Vielmehr sollte man nach einer Begründung für solche Aussagen fragen und versuchen, möglichst sachlich Fakten dagegen zu setzen. Allerdings sollte auch mit Nachdruck klargestellt werden, dass Meinungsfreiheit nicht bedeutet, falsche und unwahre Behauptungen zu verbreiten. Sinnvoll ist auch, mit der Klasse zu besprechen, durch welche Kanäle und Medien solche Fake News auf welche Weise transportiert und verbreitet werden.
Aber es gilt auch: Man muss es aushalten, wenn die betroffenen Schülerinnen und Schüler am Ende auf ihrer ursprünglichen Meinung beharren. Es ist immer noch besser, sie konnten eine solche Meinung äußern, als dass sie sie im Stillen pflegen und vor der Lehrkraft verheimlichen. So haben sie zumindest die Erfahrung gemacht, dass Schule ein Ort offenen und gewaltfreien Meinungsaustausches ist. Nicht unterschätzen darf man im Zusammenhang auch die jeweilige Wirkung auf die restlichen Schüler einer Klasse. Sie registrieren sehr wohl, ob eine Lehrkraft sich argumentativ auseinandersetzt oder autoritär Meinungen unterdrückt.
<< Fritz Schäffer, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik im BLLV