Corona lehrt ganzheitliche Bildung
Im ausführlichen Gespräch mit dem Münchner Merkur zeigt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann auf, welch enorme Bedeutung ganzheitliches Lernen im Umgang mit der Corona-Situation und darüber hinaus hat und welche Chancen jetzt genutzt werden sollten.
Eine Gesellschaft im Krisenmodus: Politik, Wirtschaft, Familien – Lösungen für drängende akute Probleme sind jetzt überall zuallererst gefragt. Für Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise ein Weg aus der Überbelastung durch die drei Aufgabenstellungen Live-Unterricht, Coaching fürs Lernen daheim und Notbetreuung, die deswegen nicht mehr leistbar ist, wie der BLLV klar gemacht hat.
Vielen bleibt da vor akuten Sorgen und Nöten wenig Zeit für das gerne zitierte „Lernen aus der Krise“. Doch liegt auch in manch vermeintlicher Notlösung bereits eine große Chance, wie BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im ausführlichen Gespräch mit dem Münchner Merkur erläutert. Unter dem Titel „Weil Schule besser werden kann“ zeigt die BLLV-Präsidentin in sechs Thesen auf, inwieweit einige der aktuellen Regelungen durchscheinen lassen, dass in der Krise plötzlich ganz selbstverständlich der ganze Mensch im Vordergrund steht, und plädiert dafür, diesen Fokus weiter beizubehalten – auch im Sinne der Forderung „Gelerntes nicht verlernen“ von Ministerpräsident Markus Söder.
Leistung: Plötzlich geht auch alles anders
Beispiel Leistung: „Noten sind nicht alles“ und „Sitzenbleiben gehört hinterfragt“ stellt Simone Fleischmann hier klar. Wenn traditionelle schriftliche Leistungsmessungen ersatzlos gestrichen werden könnten, weil es gerade um etwas anderes geht, dann könne dieses „andere“ möglicherweise auch sonst Priorität sein.
Der BLLV plädiert schon lange für einen Lern- und Leistungsbegriff im Sinne der heutigen erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse, der den ganzen Menschen in den Blick nimmt, und entsprechend für eine Kultur der Leistungsmessung, deren Fokus auf dem individuellen Prozess liegt und die folgerichtig auch individuelle Förderung zum Ziel hat. „Es ist sinnlos, wegen zwei schlechten Noten das ganze Jahr zu wiederholen und dann darauf zu hoffen, dass im Wiederholungsjahr alles besser wird“, sagt Simone Fleischmann. Konkret brauche es mehr Verbalgutachten an weiterführenden Schulen. Schülern mit Schwächen in bestimmten Bereichen sollten darin gezielt gefördert werden statt sie nicht zu versetzen.
Digitalisierung: individuell fördern statt nur kommunizieren
Vor allem dafür sieht die BLLV-Präsidentin auch beim Thema Digitalisierung eine Chance und fordert bei der aktuellen Diskussion einen pädagogischen Fokus. Die häufig zu hörende Forderung nach besserer Verfügbarkeit und Einbindung digitaler Tools bedeute nicht automatisch gutes digitales Lernen: „Vieles war nur digitales Kommunizieren“, stellt Simone Fleischmann klar.
Zudem ist Methode nicht gleich Inhalt: Den besten Unterricht macht die Lehrkraft, die für jedes Thema und jede Lerngruppe das beste Medium anwendet. Digitales Lernen habe aber eben bei der individuellen Förderung besondere Stärken – und diese gelte es systematisch einzusetzen, fordert Fleischmann. Auf inhaltlicher Ebene müssen Schülerinnen und Schülern Kernkompetenzen der digitalen Bildung fächerübergreifend vermittelt werden.
Elternhaus und Lehrkräfte gemeinsam
Digitale Kommunikation erweist sich derzeit auch vermehrt zwischen Eltern und Lehrkräften als Chance. Aber auch hier geht es für den BLLV weniger um die Frage nach geeigneten Kanälen oder um eine Neubeurteilung datenrechtlicher Fragen, betont Simone Fleischmann: „Persönliche Begegnung ist viel mehr wert als ein schickes neues digitales Tool!“ Die Begegnung zwischen Elternhaus und Lehrkräften müsse prinzipiell ausgebaut und professionalisiert werden.
Wie eine Umfrage des BLLV zeigt, birgt hier Kooperation im Sinne einer Bildung- und Erziehungspartnerschaft enorme Chancen für erfolgreiche Bildungsbiografien.
Phänomene statt Fächer
„Die Welt tickt nicht nach 18 Fächern – und die Kinder auch nicht“, sagt Simone Fleischmann. Die kultusministerielle Priorisierung einzelner Fächer sieht die BLLV-Präsidentin daher kritisch. So sei zwar auch hier immerhin ein Diskurs eröffnet, doch die Folgerung müsse eben eine ganz andere sein. Das Denken in nur Mathematik, Deutsch und Englisch vermittle gerade nicht die Kompetenzen, die Kinder und Jugendlich bräuchten, um gut durch eine Krise wie die jetzige zu kommen.
Stattdessen brauche es fächerübergreifenden Unterricht, der Kernkompetenzen herausarbeitet. „Auch dazu ist aber ein neues Verständnis von Lernen und Leistung wichtig“, sagt Simone Fleischmann. Projektorientiert und phänomenologisch unterrichten, dazu bietet beispielsweise gerade die Beschäftigung mit Corona aus dem Blickwinkel von Kindern und Jugendlichen eine gute Gelegenheit.
Corona: Lehrstück der Demokratie?
Dabei geht es allerdings um viel mehr als beispielsweise das Verstehen biologischer Zusammenhänge. Wenn die Gesellschaft um Sicherheiten ringt, die Virologen im Verstehensprozess einer Pandemie nicht wie erwünscht schnell belastbare Ergebnisse liefern können, wenn Politiker kontrovers den angemessenen Umgang diskutieren und extremistische Kräfte versuchen, aus beidem Kapital zu schlagen, dann erreicht das natürlich auch Kinder und Jugendliche. „Diese Fragen müssen uns auch im Unterricht beschäftigen“, betont Simone Fleischmann.
Denn wenn demokratiepädagogisches Denken das gesamte Schulleben erlebbar durchdringt, dann erwerben Schülerinnen und Schüler idealerweise die Fähigkeit, wissenschaftliche Debatten von Verschwörungstheorien zu unterscheiden und möglicherweise sogar eine Kompetenz, mit krisenbedingten Verunsicherungen umzugehen, von der sie weit über Corona hinaus profitieren.