„Es kann schon in einem normalen Schuljahr nicht sein, dass die zwei Zahlen hinter dem Komma in der 4. Jahrgangsstufe über den weiteren schulischen Weg eines neun- oder zehnjährigen Kindes entscheiden. Und in Zeiten wie diesen schon dreimal nicht“, so Simone Fleischmann. „Mir ist es ein absolutes Rätsel, warum die Politik nicht in der Lage war, zumindest in dieser Ausnahmesituation vom Übertrittszeugnis abzurücken, sondern auf Biegen und Brechen daran festhält.“ Nach vielen Wochen im Lockdown mit Distanz- und Wechselunterricht, mit völlig verschiedenen Voraussetzungen in den einzelnen Schulen und Familien seien Vergleichbarkeit und damit eine faire Beurteilung gar nicht möglich. Trotz aller Bemühungen und des immensen Engagements von Lehrerinnen und Lehrern, zu groß sind die Unterschiede – nicht nur zwischen den Schulen, sondern auch innerhalb einer Schule, ja sogar einer Klasse.
Noten ohne Aussagekraft
Durch das Festhalten am Übertrittszeugnis sahen sich die Grundschullehrerinnen und -lehrer zu einer zum Teil „absurden Notenjagd“ gezwungen. „Ein pädagogisches Fiasko“ konstatiert Fleischmann. Aufgrund der Corona-Situation war zwar die Anzahl der Proben sukzessive von 22 auf 14 reduziert und schließlich komplett freigegeben worden. Doch was nach Entspannung klingt, hat den Druck auf die jungen Schülerinnen und Schüler in Wahrheit nochmal deutlich erhöht. Denn entweder wurden die alles entscheidenden Noten auf der Basis weniger Proben erhoben – somit hat die einzelne Probe noch mehr Gewicht – oder es wurden in den letzten Wochen noch schnell so viele Noten wie möglich gesammelt. „Was das mit einer fundierten und realistischen Einschätzung des einzelnen Kindes zu tun hat, muss man mir erstmal erklären“, entrüstet sich Simone Fleischmann.
Auch die aktuelle Bekanntgabe des Kultusministeriums, dass das Übertrittszeugnis in Ausnahmefällen statt am 7. am 14. Mai ausgegeben werden kann, sollten bei einem Kind nicht genügend Noten vorliegen, löst beim BLLV Fassungslosigkeit aus. „Den Schülerinnen und Schülern, die aufgrund von Quarantäne, Beurlaubung oder eigener Erkrankung gefehlt haben, in dieser kurzen Frist noch mehr Leistungsnachweise abzuverlangen, ist doch absurd, um nicht zu sagen zynisch“, so Fleischmann. „Das können wir Lehrerinnen und Lehrer besser, wenn man uns mehr Vertrauen in unsere Professionalität entgegenbringen und weniger auf dieser Prozedur des Übertritts bestehen würde. Jetzt haben wir doch bewiesen, dass es auch ohne starres Festhalten an Probenzahlen geht: Wir können unsere Kinder einschätzen, wir wissen, was sie können und welche Schulart für sie geeignet ist.“
Freigabe des Elternwillens
„Dass es auch heuer valide Übertrittsempfehlungen gibt, liegt doch daran, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den vierten Klassen ihre Kinder kennen und trotz – oder gerade wegen – Corona die Eltern kompetent beraten haben“, so Simone Fleischmann. Deshalb wäre der einzig richtige Weg gewesen, die Eltern mit der professionellen Einschätzung durch die Lehrerinnen und Lehrer über die weiterführende Schule für ihr Kind entscheiden zu lassen. „Das wäre ein hoffnungsfrohes Signal für die Zukunft des Übertritts in Bayern gewesen – nun
ist es leider eine verpasste Chance“, bedauert die BLLV-Präsidentin. In den meisten Bundesländern ist dies sowieso längst der Fall. Nur in Sachsen, Berlin und Bayern pocht man beharrlich auf das bestehende System und schaut weiterhin starr auf den Notenschnitt in den drei Fächern Deutsch, Mathe und HSU (Heimat- und Sachunterricht).
Der BLLV fordert schon lange, das sogenannte „Grundschulabitur“ abzuschaffen und statt auf den Notenschnitt bestimmter Fächer ganzheitlicher und individuell auf das einzelne Kind zu schauen. „Der enge Blick auf drei Fächer und die Fixierung auf diese Noten sind absolut fragwürdig. Viele andere Fähigkeiten
und Kenntnisse werden hier außer Acht gelassen, wichtige Faktoren wie Sozialkompetenz, Persönlichkeitsentwicklung und Arbeitshaltung spielen offenbar keine Rolle“, so Simone Fleischmann. Dabei sei sich die Wissenschaft längst einig, dass eine Prognose auf Basis der kognitiven Leistungen von zehnjährigen Kindern wenig Aussagekraft für ihre spätere Lernentwicklung hat.
Außerdem seien viele Kinder in der Zeit des Übertritts gar nicht in der Lage, ihr volles Potenzial zu zeigen, weil sie vom Lernpensum, dem Lernrhythmus und dem damit verbundenen Leistungsdruck überfordert sind. „Das kann nicht Sinn der Sache sein“, so Fleischmann. „Wir brauchen endlich ein neues Verständnis von Schule und Leistung und müssen die Noten- und Prüfungskultur grundsätzlich überdenken. Jedes Kind sollte mit seinen Fähigkeiten und Kompetenzen gesehen werden. Nur so ist eine tragfähige und sinnvolle Entscheidung über den Schritt in die weiterführende Schule möglich.“ Die Chancen aus der Corona-Zeit liegen doch genau darin: den Übertritt, das Lern- und Leistungsverständnis und den Bildungsauftrag von Schule neu zu denken. Da bleibt der BLLV dran!
Das aktuelle BLLV-Positionspapier zur individuellen Förderung finden Sie unter: https://www.bllv.de/vollstaendiger-artikel/news/fei-flexibel-effizient-und-intelligent-foerdern/.
Unser Verständnis von „Lernen und Leistung nach Corona“ finden Sie hier: https://www.bllv.de/themen/weitere-themen/leistung/leistung-in-zeiten-von-corona/.