„Bindung gibt Kindern eine Ressource fürs ganze Leben“
Wenn Menschen in Beziehungen sicher gebunden sind, gelingt Bildung fast von alleine, erklärt der Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch – und meint Schüler wie Lehrer. Humorvoll zeigt er im Vortrag, wie sich unterschiedliche „Bindungstypen“ begegnen.
„Mama, Mama, da ist ein Krokodil unter meinem Bett und am Fenster ist ein Löwe!“
- „Na, dann komm zu Mama und Papa ins Bett, da bist du sicher und wir beschützen dich.“
- „Ich hab dir schon hundert Mal erklärt, die gibt es hier nicht. Ende, Schluss, Aus!“
- „Na gut, ich nehme dich auf den Arm – aber glaub nur nicht, dass ich das jedes Mal mache!“
So unterschiedlich reagieren Eltern, wenn ein Kind in Not ist. Ihre Aussagen verraten einerseits viel darüber, wie die eigene Kindheit war, und sie stellen andererseits damit die Weichen, wie ein Kind vermutlich später selbst als Erwachsener durchs Leben gehen wird. Denn für den Kinderpsychiater Prof. Dr. Karl Heinz Brisch wird durch solche frühkindlichen Erfahrungen entscheidend geprägt, was später über nicht weniger als das Lebensglück entscheidet: das Vertrauen in menschliche Bindungen und die Fähigkeit, Beziehungen selbst zu gestalten.
Wie Bindung genau entsteht, warum die ersten Lebensjahre dabei so entscheidend sind, und was sich daraus für den Alltag eines Lehrers ergibt, das illustriert Brisch beim Kamingespräch in der Landesgeschäftsstelle des BLLV in München auf höchst anschauliche, humorvolle und mitreißende Weise.
Sicher, vermeidend, ambivalent oder chaotisch?
An den unterschiedlichen Reaktionen der Eltern auf das beispielhafte Krokodil unterm Bett erläutert der Kinderpsychiater vier grundlegende Bindungsmuster:
Antwort eins sorge beim Kind für Vertrauen in Schutz und Geborgenheit der Eltern und lasse bei diesen auf ähnlich gelagerte Erfahrungen in der eigenen Kindheit schließen. Sicher gebundene Kinder könnten später selbst gut Bindungen eingehen, seien hilfsbereit und zugleich eigenständig.
Antwort zwei signalisiere Kindern, dass sie ihre Probleme gefälligst selbst lösen sollen und stamme meist von Menschen, die früh lernen mussten, selbst klarzukommen und daher tendenziell bindungsvermeidend agieren.
Antwort drei stehe für ein bindungsambivalentes Muster im Sinne von „Komm her, geh weg!“ und entstehe, wenn Trost mit Drohungen verbunden wird. Solche Menschen zeigen im späteren Leben oft starke Trennungsängste, führt Brisch aus. Für den Referenten ist das Muster aus Helfen und Drohen an Schulen systemimmanent etabliert in Form einer Rotstift- und Bewertungskultur, was unter anderem auch zu Prüfungsängsten führe.
Völlig unberechenbar reagieren Eltern laut Brisch, wenn sie selbst in der Kindheit traumatische Erfahrungen zu bewältigen hatten und deshalb in Beziehungen chaotisch agieren, sodass dieselbe Situation einmal mit Brüllen und Schreien, dann mit Indifferenz oder ganz anders beantwortet wird. Wenn Kinder so aufwüchsen, entwickelten sie meist selbst ein chaotisches, unberechenbares Beziehungsverhalten.
Empathie schafft Bindung zu Schülern
„Wenn sich Menschen treffen, treffen solche Bindungssysteme aufeinander“, sagt Karl Heinz Brisch und richtet seinen Blick auf die Interaktion zwischen Lehrern und Schüler: Wie kann Bildung unter diesem Gesichtspunkt am besten gelingen?
Der Kinderpsychiater schildert den Fall eines schwedischen Lehrers, dessen Schüler bei den dort üblichen Schuleingangs- und Schulausgangstests stets am besten abschnitten. Dessen Geheimnis: In der ersten Stunde sprach der Pädagoge mit jedem Schüler einzeln zwei Minuten lang und stellte simple Fragen wie „Wie heißt Du?“, „Wie geht’s Dir heute?“, „Was machst du sonst so?“. Bei Aussagen wie „Mein Hamster ist heute gestorben!“ oder „Meine Mutter hat heute ihre Medikamente nicht genommen und wieder getrunken.“ reagierte er verständnisvoll, fragte nach, nahm Anteil.
„Einfühlen in das, was jemanden bewegt“, nennt Karl Heinz Brisch diesen Aufbau von Bindung, den der schwedische Lehrer in der zweiten Unterrichtsstunde fortsetzte. Er stellte sich zu Beginn an die Klassenzimmertüre, begrüßte jeden Schüler einzeln und fragte nach: „Wisst ihr schon, wie ihr den Hamster beerdigen wollt?“ und „Hat Deine Mutter heute ihre Pillen genommen?“
Bindung ist leistungsfördernd
Seine Klasse hatte am Jahresende den höchsten Lernzuwachs in Mathematik landesweit. Der einfache Grund für Bindungsexperte Brisch, der dazu auf die pädagogische Arbeit von John Hattie hinweist: Die Schüler hatten eine starke persönliche Bindung zu ihrem Lehrer - Mathematik erlernten sie dann bei ihm „nebenbei“.
Damit stimmt der Referent BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann zu, die das Auditorium in ihrer Eröffnungsrede des Kamingesprächs zum Nachdenken eingeladen hatte, bei welchen Lehrerinnen und Lehrer man selbst am besten gelernt habe: „Die Person nimmt mich ernst, sie ist fair, sie mag mich“, nannte sie als Schlüsselsätze für gelungene Bildung. „Also Lehrer mit echter Beziehung“, so Fleischmann.
Zeit für Menschen
Eine solche Beziehung aufzubauen, braucht natürlich viel Zeit, wie Karl Heinz Brisch an wundervoll gewählten Beispielen aus dem Beziehungsleben Erwachsener immer wieder unter großem Applaus und Lachen illustriert – so schildert er charmant die empathische Frühstückszubereitung unter Verliebten, die sich beflissen jeden Wunsch von den Lippen ablesen.
Simone Fleischmann stellt in der anschließenden Gesprächsrunde klar, dass diese Zeit und Aufmerksamkeit füreinander das höchste Gut im täglichen Einsatz für Bildung sei und verweist auf das Motto der Landesdelegiertenversammlung des BLLV im Mai: „Herz. Kopf. Hand. – Bildung ist Zeit für Menschen“. Diese Zeit für bildungsfördernde Bindungen sei zu knapp bemessen, wenn Lehrerinnen und Lehrer vor 25 Kindern stünden und genau wüssten, dass zehn davon keine sichere Bindung erlebt hätten und dringend gefördert werden müssten.
Alleine nicht zu schaffen
Hier kritisiert Referent Brisch das Schulsystem als veraltet: Der Anteil an verhaltensauffälligen Kindern mit Therapiebedarf habe sich an den Grundschulen in den letzten Jahren von 10% auf 20% fast verdoppelt, daher könne man nicht wie vor 30 Jahren in Klassen mit 25 Kindern unterrichten. Heute seien völlig andere Relationen nötig.
Damit bestätigt er die Forderung des BLLV nach multiprofessionellen Teams an Schulen: Der Bindungsexperte macht deutlich, wie wichtig individuelle Förderung sei. Diese sei aber gerade bei Kindern mit Bindungsstörung besonders schwer in Form von Inklusion möglich, erklärt Brisch. Lehrer müssten dieses Paradoxon dann ausbaden.
Leistungsdruck verhindert Lernen
Simone Fleischmann weist dabei auch auf den Leistungsdruck an Grundschulen hin, nicht zuletzt durch den fürs Gymnasium in Bayern geforderten Notenschnitt von 2,33. Dazu erläutert Referent Brisch, dass die eigentlich allen Kindern angeborene Neugier und die Freude an Exploration und Lernen durch externe Störfaktoren wie Hunger, Kälte, Schlafmangel, schlechter Luft, Stress und Angst unterdrückt werde und sprach von „negativen Reizen“, die Bildung verhindern.
Einige solcher negativer Reize seien durch den gesellschaftlichen Druck in den Schulen sogar systembedingt. Eine „Rotstiftkultur“, die bei Diktaten nicht die 7 richtig geschriebenen Wörter betone und zum nächsten Lernschritt motiviere, sondern die 3 falschen Wörter hervorstelle, tue hier ihr Übriges, konstatiert der Kinderpsychiater. Der Hang zur Analyse von Defiziten und hohen Messlatten im Sinne von „Nicht geschimpft ist schon gelobt“, sei ein deutsches und mitunter auch bayerisches Phänomen, spitzt Karl Heinz Brisch zu.
Weg vom „Workismus“
Er fordert einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel: „Beruflicher Erfolg heißt nicht, dass das Leben gut gelingt“, sagt Brisch und verweist auf den kritischen angloamerikanischen Begriff des „Workismus“. Statt dass sich die Zeit für Kinder der Arbeitswelt anpasse wie im Fall von 24-Stunden Kitas, müssten sich Arbeitsbedingungen dem Zeitbedarf für Kinder anpassen.
An Kitas müsse gerade in den prägsamen ersten drei Jahren eigentlich ein Betreuungsschlüssel von 2:1 gelten, üblich seien in Deutschland aber 6:1 bis 9:1, führt der Kinderpsychiater aus. Wenn ein Erzieher krank werde und gezwungen sei, 18 Kinder zu betreuen, müsste man eine Kita für Brisch schließen. Er verstehe aber auch, dass Eltern im wiederholten Fall um ihren Job fürchteten. Hier sei eine gesellschaftliche Diskussion nötig, denn ein Erzieher auf 18 Kinder, das grenze an Kindesmisshandlung, meint Brisch.
Bildungsziel Beziehungsfähigkeit?
Simone Fleischmann verweist im Hinblick auf nötige gesellschaftliche Veränderungen auf den vom BLLV formulierten modernen Leistungsbegriff mit einem ganzheitlichen Bildungsverständnis und einem Lernbegriff fürs 21. Jahrhundert, der Kompetenzen wie Kreativität, Selbstständigkeit und Teamfähigkeit in den Fokus nimmt. Referent Brisch fordert: „Statt schneller und weiter müsste unser Ziel sein: Kinder sollen liebes- und beziehungsfähig sein“, denn das sei der Schlüssel zum Glück. „Wie wäre es, wenn das an der Tür zum BLLV stünde oder der Bayerische Landtag das als übergeordnetes Bildungsziel ausgeben würde?“, fragt Karl Heinz Brisch provokant.
Die Zuhörer im Foyer der Landesgeschäftsstelle des BLLV zeigten sich von Brischs pointierten Ausführungen höchst amüsiert und nahmen gleichzeitig überzeugend hergeleitete Sachinformationen mit. Form und Inhalt stimmten in diesem Vortrag exzellent zusammen, denn der Bindungsexperte verstand es ausgezeichnet, mit Charme, Witz und Verstand in Beziehung zu seinen Zuhörern zu treten und sein Anliegen anregend zu vermitteln. „Wir waren bei Ihnen gut gebunden“, resümierte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann daher.
Lehrerinnen und Lehrern machte Karl Heinz Brisch abschließend viel Mut: „Einem Kind ein Bindungssystem mit auf den Weg geben, ist eine Ressource für den ganzen Rest des Lebens. Wir nennen das ein ‚inneres Arbeitsmodell‘ oder einen ‚inneren Begleiter‘ in schwierigen Situationen. Oft sind das genau Lehrer.“
Weitere Informationen
Überblick: Frühpädagogik im BLLV
Bildung braucht Beziehung: Lernen im 21. Jahrhundert
BLLV-Dossier: Mythos Leistung
Zur Person
Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof. an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) in Salzburg, Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie. Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen. Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er ist Vorstand des weltweit ersten Lehrstuhls für Early Life Care und leitet das gleichnamige Forschungsinstitut an der PMU in Salzburg.
Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen den Bereich der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen.
Brisch leitet seit vielen Jahren die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und entwickelte dort das MOSES®-Therapiemodell zur erfolgreichen Intensiv-Psychotherapie von früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen.
Brisch entwickelte die Präventionsprogramme “SAFE® - Sichere Ausbildung für Eltern” und “B.A.S.E® - Babywatching”, die inzwischen in vielen Ländern Europas, aber etwa auch in Australien, Neuseeland und Russland Verbreitung gefunden haben.
Er ist Gründungsmitglied der „Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit“ (GAIMH e. V. – German-Speaking Association for Infant Mental Health), und war dort viele Jahre lang im Vorstand. Die GAIMH ist eine Tochtergesellschaft der WAIMH – World Association for Infant Mental Health.