Wie gerecht ist unser Bildungssystem?
In Deutschland ist Bildungsgerechtigkeit ein hohes Gut. Als zentrale Aufgabe des Bildungssystems gilt, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung zu fördern und sie dabei zu unterstützen, Talente, Fähigkeiten und Persönlichkeit zu entfalten. Allen Schülerinnen und Schülern soll die gleiche Chance auf den Lern- und Bildungserfolg geboten werden – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Glaube, Behinderung oder politischer Einstellung. Wird das Gebot der Chancengleichheit innerhalb des Bildungssystems nicht erfüllt, hat das Konsequenzen auf drei Ebenen.
Auf der individuellen Ebene entstehen aufgrund der engen Kopplung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem ungleiche Einkommenschancen, Gesundheitsrisiken und Lebenszufriedenheiten.[i] Auf der wirtschaftlichen Ebene entsteht die Gefahr, dass die Bildungspotentiale nicht effizient genutzt werden und Deutschland in der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft im internationalen Vergleich zurückfällt. Auf gesellschaftlich-demokratischer Ebene sind bestimmte Bevölkerungsteile an den entscheidenden Stellen unserer Gesellschaft unterrepräsentiert und partizipieren seltener an politischen Prozessen. Die Geschicke unserer Demokratie werden dann nur von bestimmten Bevölkerungsteilen gelenkt.
Die Bildungsbeteiligung ist in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt stark gestiegen. In manchen Teilen des Bildungssystems haben die Ungleichheiten nach Geschlecht und sozialer Herkunft abgenommen. Dennoch zählt Deutschland weiterhin zu den Ländern mit einem sozial stark geschichteten Bildungssystem. Ein differenzierter Blick auf den gesamten Bildungsverlauf zeigt: Die Ungleichheiten haben sich teilweise von den früheren Bildungspassagen auf die späteren verschoben. Die Ungleichheiten am Ende der Bildungslaufbahn sind aber mehr oder weniger stabil geblieben – nur auf einem höheren Bildungsniveau.
Wie Kinder aus weniger priviligierten Familien benachteiligt werden
Aktuelle Daten legen den Schluss nahe, dass wir dem Ziel der Bildungsgerechtigkeit in den vergangenen Jahrzehnten kaum nähergekommen sind: Derzeit gelangen 79 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien ins Studium, gegenüber 27 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien. Bereits in der Grundschule erzielen Kinder aus weniger privilegierten Familien schlechtere Zensuren und erhalten auch bei gleichen Leistungen seltener eine gymnasiale Übergangsempfehlung.
Zudem haben sich die Mechanismen, die zu Ungleichheit führen, über die Zeit zum Teil verändert. Sie zeigen sich nicht nur in der anteiligen Bildungsbeteiligung, sondern auch in der Art der Bildungsbeteiligung: der Reputation des Bildungsortes, des angestrebten Berufsfeldes oder der internationalen Erfahrungen, die man im Rahmen des Bildungsweges macht.
Darüber hinaus wurde in der COVID-Pandemie deutlich: Die bereits benachteiligten Bevölkerungsteile sind von den veränderten Bedingungen stärker betroffen als andere. Dadurch wird der Lern- und Bildungserfolg dieser Gruppen massiv beeinträchtigt. Dem Bildungssystem gelingt es demnach nicht immer, die unterschiedlichen Bedingungen im Elternhaus zu kompensieren. Ursache und Lösung ungleicher Bildungs- und Karrierewege sind folglich nicht ausschließlich innerhalb des Bildungssystems zu suchen. Die wesentliche Ursache sozialer Ungleichheit liegt außerhalb des Bildungssystems.
Was Bildungsungleichheiten mit dem Elternhaus zu tun haben
Die sozialen Ungleichheiten im Lern- und Bildungserfolg werden oftmals als das Ergebnis einer schichtspezifischen Sozialisation im Elternhaus und unterschiedlicher leistungsbezogener Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angesehen. Tatsächlich bringen Kinder je nach Elternhaus unterschiedliche motivationale und leistungsbezogene Voraussetzungen für den Lern- und Bildungserfolg in der Schule mit. Zentrale Akteure bei der Entstehung von Bildungsungleichheiten sind jedoch die Eltern mit ihren Möglichkeiten, die Kinder zu unterstützen, mit ihrer Erwartungshaltung und schlussendlich mit ihrer Entscheidung über den weiteren Bildungsverlauf ihrer Kinder.
Bildungsungleichheiten resultieren demnach nicht nur aus unterschiedlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler (primäre Herkunftseffekte). Sie hängen unmittelbar mit den unterschiedlichen Aspirationen und Bildungsentscheidungen der Eltern zusammen (sekundäre Herkunftseffekte).[i] Eine zentrale Rolle spielt das Motiv, den Status über die Generationen hinweg zu reproduzieren. Eltern investieren – mehr oder weniger bewusst – je nach sozialer Herkunft in unterschiedlicher Weise in ihre Kinder.
Darüber hinaus finden sich in der Literatur auch Ansätze, die dem Bildungssystem selbst eine aktive Rolle bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit zuschreiben.[i] Die im Bildungssystem bestehenden Regeln und Erfordernisse sowie die (akademische) Sprache der Lehrerinnen und Lehrer würden diesen Überlegungen zufolge eher den Schülerinnen und Schülern aus privilegierten Familien entsprechen.
Zu welchen Anteilen Schülerinnen und Schüler selbst, die Eltern und die Lehrerkräfte zum Lern- und Bildungserfolg beitragen, und inwieweit diese Muster sozialer Ungleichheit folgen, hängt am Ende aber von der betrachteten Bildungspassage und der jeweiligen Dimension der Ungleichheit ab (Geschlecht, Herkunft, Migration, Beeinträchtigung). Eine zentrale Erkenntnis der aktuellen Ungleichheitsforschung ist jedoch: Die für den Lern- und Bildungserfolg wichtigen Unterschiede in den Basiskompetenzen bestehen bereits vor der Schulzeit, tendenziell vergrößern sie sich im weiteren Bildungsverlauf .[i] Die Schule ist nicht die originäre Ursache von sozialen Unterschieden im Kompetenzerwerb, und es scheint im weiteren Bildungsverlauf allenfalls begrenzt zu gelingen, diese Eingangsunterschiede der verschiedenen Schülerinnen und Schüler zu kompensieren.
Wir könnten trotz allem mehr Bildungsgerechtigkeit erreichen
Grundvoraussetzung für mehr Bildungsgerechtigkeit ist, ein Verständnis von kompensatorischer Chancengleichheit zu entwickeln und zu versuchen, es umzusetzen. Wo ein Bildungssystem Ungleiches gleichbehandelt, wird es nicht gelingen, allen die gleichen Lern- und Bildungschancen zu bieten und die vorliegenden Bildungspotentiale bestmöglich zu fördern.
Um ein Mehr an Bildungsgerechtigkeit zu erzielen, bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes innerhalb und außerhalb des Bildungssystems. Dieser Ansatz sollte in unterschiedlichen Phasen des Lebenslaufs einsetzen, die entsprechenden Maßnahmen sollten ineinandergreifen. Nicht nur auf die Rolle des Bildungssystems ist zu achten; auch das Individuum, die Familie und die gesellschaftlichen Bedingungen außerhalb der Schule sind in diese Überlegungen einzubeziehen. Worauf es dabei ankommt:
Maßnahmen frühzeitig implementieren - Je früher die Maßnahmen zur Kompensation von Lern- und Entwicklungsunterschieden einsetzen, desto wirkungsvoller können sie sein. Verbindliche Bildungspläne in den Kindertageseinrichtungen mit klar formulierten Bildungszielen könnten helfen, Lern- und Entwicklungsrückstände bereits im vorschulischen Bereich sichtbar zu machen (Diagnostik) und gegensteuernde Maßnahmen bereits vor Schulbeginn einzuleiten (Intervention).
Außerschulische Bildungsangebote stärken und integrieren - Die unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten in den Familien sind eine zentrale Erklärung für Leistungsunterschiede. Um diese innerfamiliären Unterschiede auszugleichen, sollten Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in außerschulischen Einrichtungen gestärkt und gezielt mit den Bildungsangeboten in den Kindertageseinrichtungen und Schulen verzahnt werden.
Individuelle Förderung - Eine systematische Verankerung des Prinzips der individuellen Förderung im Unterricht wird helfen, um die Leistungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler besser zu berücksichtigen. Das Augenmerk sollte darauf liegen, dass sie alle ein Mindestmaß an Basiskompetenzen erreichen. Individuelle Förderung kommt hierbei zwar allen zugute, wird aber insbesondere den leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern helfen, auf höherem Kompetenzniveau ihren weiteren Bildungsweg zu bestreiten.
Flexibilisierung der Bildungswege - Mit Blick auf die starken Einflüsse des Elternhauses im Kindesalter bedarf es eines Bildungssystems, in dem es auch noch im späteren Bildungsverlauf möglich ist, frühe Bildungsentscheidungen und Misserfolge zu korrigieren.
Individuelle Elterninformation - Mit Blick auf die starken sekundären Herkunftseffekte bei der Wahl der weiterführenden Schulform wäre es empfehlenswert, die Elternvorstellung/-aspiration mit dem tatsächlichen Leistungspotential ihrer Kinder realitätsgetreu und ohne herkunftsspezifische Verzerrung abzugleichen.
Die Rolle der Lehrkräfte stärken, Kapazitäten schaffen - Die Umsetzung der oben genannten Punkte wird nur funktionieren, wenn die Rolle der Lehrerkräfte gestärkt wird, wenn ablenkende Aufgaben reduziert, Unterstützungssysteme aufgebaut und weitere Kapazitäten geschaffen werden.
Fazit
Inwiefern diese Ansätze tatsächlich zu einem Mehr an Bildungsgerechtigkeit und weniger sozialer Ungleichheit führen, hängt davon ab, wie sich die Ungleichheitsmechanismen unter den veränderten Vorzeichen verhalten. Eine zentrale Voraussetzung für den langfristigen Abbau von sozialen Ungleichheiten ist aber, dass die Vision der Chancengerechtigkeit aktiv verfolgt, und das Thema gesellschaftlich und politisch stärker ins Bewusstsein gerückt wird. Zudem ist es erforderlich, nicht nur die Entstehungsfaktoren sozialer Ungleichheiten zu verstehen. Es kommt auch darauf an, ganz konkret intervenierende Möglichkeiten des Abbaus von Bildungsbarrieren zu entwickeln, einzusetzen und in ihrer Wirkung zu evaluieren.
[i] Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Bielefeld: wbv. https://dx.doi.org/10.3278/6001820fw
[i] Boudon, R. (1974): Education, opportunity, and social inequality. New York: Wiley.
[i] Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
[i] Skopek, J. & Passaretta, G. (2021): Socioeconomic Inequality in Children’s Achievement from Infancy to Adolescence: The Case of Germany. Social Forces, 100(1): 86–112. https://doi.org/10.1093/sf/soaa093