Corona wirbelt alles durcheinander. Die Gesellschaft, die Wirtschaft, unseren Alltag. Und nicht zuletzt die Schule. Aus heiterem Himmel hat uns dieser Virus überrollt und das Bild von der heilen Welt verändert. Als wäre eine schützende Decke weggezogen worden, sieht man plötzlich deutlich die Risse im Fundament – nicht nur in der Bildungslandschaft. Hier allerdings haben sie einen grundlegend nachhaltigen Effekt für die Zukunft, denn dieses Fundament ist essentiell für unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Leben. Und nur auf ein starkes, intaktes Fundament kann man stabil bauen.
Die Schüler von heute sind die Gesellschaft von morgen. Es sollte uns allen daran gelegen sein, sie möglichst gut auf diese Rolle vorzubereiten: sie sollen in einer digitalisierten Welt leben und arbeiten, Teamplayer sein, Verantwortung übernehmen, Zukunft gestalten und so vieles mehr. In der Schule, aber auch in der Familie sollten sie organisch in diese Rolle hineinwachsen. Nicht für jedes Kind ist das jedoch problemlos möglich. Der sozioökonomische Status des Elternhauses spielt auch und vor allem hier eine entscheidende Rolle. Umso wichtiger sind für Kinder aus einem weniger privilegierten Umfeld Schule und Lehrkraft als Bezugspunkte, bisweilen sogar als Korrektiv.
Was macht Schule eigentlich aus?
Auf einmal ist Schule, wie wir sie alle kennen, nicht mehr möglich. Andere Formen müssen gefunden werden, und zwar schnell. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Was ist denn eigentlich wichtig? Mathematik! Deutsch! Fremdsprachen? Sport? Geht gerade nicht, wegen der Abstandsregeln. Die musischen und praktischen Fächer kann man auch erstmal weglassen. Wirklich? Bei dieser Diskussion geht es seltsamerweise meist nur um die einzelnen Fächer…
Wenn das so wäre, dann müsste es doch eigentlich genügen, wenn die Kinder sich täglich mit Hilfe von selbsterklärenden Aufgabenformaten neue Sachverhalte in den „wichtigen“ Fächern erarbeiten, diese dann üben und mit Lösungsblättern überprüfen. Wozu braucht es dann den Lehrer, die Mitschüler, die Klasse, die Schule? Das drängt sich doch die Frage auf: Was macht Schule eigentlich aus? Was heißt Lernen, was gehört alles dazu? Was bedeutet „Leistung“?
Kontakt halten fordert Kreativität
Als Schulleiterin einer Grundschule komme ich hier mit meinem Kollegium derzeit an Grenzen: Auch am Ende des „Corona-Schuljahres“ soll es im Juli 2020 für jedes Kind ein Jahreszeugnis geben. Ein Zeugnis, in dem Lernstand und -fortschritte, Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt werden. Seit drei Monaten haben die Kolleginnen und Kollegen ihre Klassen nicht mehr gesehen, bis zum Schuljahresende werden es knapp fünf Monate sein.
Ab und zu gab es den Versuch einer Videokonferenz – soweit den Kindern (und den Lehrkräften) zu Hause ein entsprechendes digitales Endgerät zur Verfügung stand, und ein Elternteil, das sich auskannte und Zeit hatte, dabei anzuleiten. Manche Lehrkräfte besuchten ihre Schüler zu Hause, brachten Material vorbei und hielten ein Bäuschchen vom Gartenzaun aus. Andere telefonierten.
Zeugnis schreiben für ein Kind, das man nur 10 Tage gesehen hat?
In einigen Klassen jedoch waren derartige Kontakte nicht möglich, da die Lehrkraft selbst erkrankt oder schwanger und bereits vor der Corona-Krise ausgefallen war. Die wenigen Tage, die die Kinder im Schichtbetrieb nun wieder in die Schule kommen, können das bei weitem nicht ausgleichen. Für manche Kinder schreibt nun eine Vertretungslehrkraft das Jahreszeugnis, ohne die Kinder überhaupt jemals mehr als 10 Tage gesehen zu haben.
Fast die Hälfte des Schuljahres kann nur aufgrund der selbständig zu Hause bearbeiteten und zurückgegebenen Arbeitsblätter beurteilt werden. Sind diese Ergebnisse tatsächlich aussagekräftig? Und wer oder was wird hier eigentlich bewertet? Die Kinder? Die Eltern? Die Lehrkraft? Das Lehrwerk? Eine Herkulesaufgabe für die Lehrkräfte. Vor allem für die, die den Kindern wirklich gerecht werden möchten.
Bei idealen Voraussetzungen und älteren Schülern ruckelt es sich zurecht
Als Mutter eines Fünftklässlers sehe ich auch die andere Seite: nach vier Wochen chaotischer Erprobungsphase mit mebis, Eltern- und Schülerportal, Mail- und WhatsApp-Verkehr zwischen Eltern, Schülern und Lehrkräften pendelte sich die Weitergabe von Aufgaben ein – sofern die Portale nicht gerade überlastet und die Internetverbindung hier auf dem Land stabil war.
Mein Sohn macht jetzt eben 5 Stunden täglich Hausaufgaben. Wir haben nur wenige Probleme: er lernt gern, selbständig, leicht, strukturiert und benötigt nur wenig Hilfe. Mit dem PC ist er relativ vertraut, und er hat einen Papa und einen großen Bruder, die ihm technische Unterstützung bieten können. Ich bin „vom Fach“ und kenne mich im Unterrichtsstoff der 5. Klasse (noch) aus. Und ich kann mir einiges an Arbeitszeit selbst einteilen, vieles auch im „Homeoffice“ erledigen und ihm nebenbei über die Schulter schauen.
Grundschüler müssen eigenständiges Lernen erst lernen
Wie geht es aber dagegen unseren Grundschülern? Selbstständiges Erarbeiten von neuen Lerninhalten, zuverlässige Arbeitshaltung, realistische Selbsteinschätzung und anschließende passende Auswahl von Übungen: Was kann ich, was muss ich noch und wie intensiv üben? Dazu noch der Umgang mit digitalen Geräten. Das alles ist neben den fachlichen Inhalten Gegenstand des Unterrichts in der Schule. Ohne diese Basics, ohne Unterstützung und angemessenes Feedback ist ein Lernen alleine zu Hause für Kinder dieser Altersstufe nicht möglich. Wer im Grundschulalter mit dem flüssigen und sinnerfassenden Lesen kämpft, steht ziemlich verlassen da, wenn er sich Lerninhalte allein erarbeiten soll.
Manche haben Glück: die Mama muss nicht arbeiten, kann und will sich um die Schulsachen kümmern, hat Zeit, Geduld und Muße für Unterstützung beim „Homeschooling“.
Bildungsgerechtigkeit bemisst sich nicht nur in Noten
Was ist aber mit den anderen? Mit denen, die weniger privilegiert sind? Deren Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen keine Zeit, keine Geduld, keine Möglichkeit haben, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen?
Meist sind das die Kinder, die sowieso schon viel zu oft „durchs Raster fallen“, die schon immer mehr Zuwendung durch die Lehrkräfte brauchen. Nicht nur was den Lernstoff betrifft, sondern auch und vor allem emotionale Zuwendung. Sie tun sich nicht nur schwer beim Lernen, beim sozialen Miteinander. Sie schleppen oft Sorgen mit sich herum, die viel zu groß für ihr Alter sind. Und auch Corona macht ihnen vielleicht mehr Angst als nötig, weil niemand ihnen dieses Virus erklärt. Sie wissen nur: es muss ziemlich schlimm sein, wenn plötzlich alle Masken tragen und man nicht mehr auf den Spielplatz darf, die Eltern auf einmal noch weniger Geld verdienen oder sogar arbeitslos werden.
Bildungsgerechtigkeit zeigt sich also nicht nur in Zeugnisnoten, sondern vor allem in Geborgenheit, Wertschätzung und Unterstützung beim Entwickeln einer gewinnbringenden Einstellung zum Lernen. Sie sollte unser übergreifender Auftrag sein – zum Wohl der Kinder heute und der Gesellschaft von morgen.
<< Julia Schuck, Leiterin der Abteilung Berufswissenschaften im ULLV (BLLV Unterfranken)
Bildungsgerechtigkeit in Zeiten von Corona
Die Pandemie hat enormen Einfluss auf das Bildungssystem. Ob es gelingt, auch die Kleinsten fair durch diese Zeit zu bringen, bemisst sich dabei nicht nur in Noten, betont Julia Schuck, Leiterin der Abteilung Berufswissenschaften im ULLV.
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