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Neue Studie zur Inklusion Startseite

Ausbau inklusiver Bildung läuft schleppend

Aktuelle Bertelsmann-Studie zeigt: Ausbau der Inklusion kommt nur schleppend voran. Gesellschaftliche Akzeptanz ist jedoch sehr hoch, wie eine Befragung von Eltern zeigt. Um den Kindern gerecht werden zu können, braucht es bessere Rahmenbedingungen.

Das gemeinsame Lernen und Leben von Menschen mit und ohne Behinderung ist elementarer Bestandteil von Bildung. Um das zu ermöglichen, braucht es mehr als ein gequältes "Ja" zur Inklusion Es braucht Begeisterung und es braucht die notwendigen Voraussetzungen, um diese Begeisterung umsetzen zu können. Denn Kinder benötigen die Rahmenbedingungen, in denen ihnen eine selbstbestimmte, gerechte Teilhabe an der Gesellschaft und ihren Institutionen ermöglicht wird.

Der Weg zu einem inklusiven und sozial gerechten Bildungssystem beginnt in der frühkindlichen Bildung und muss in der gesamten Bildungsbiographie verankert werden. Je früher Kinder Vielfalt als bereichernd wahrnehmen, desto eher wird Heterogenität zur Normalität. Aber Inklusion ist auch mehr als zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention vielerorts noch Zukunftsmusik. Dabei hat jedes Kind das Recht auf hochwertige Bildung, unabhängig von Herkunft, Wohnort, Geschlecht oder sozialen Voraussetzungen. Alle haben ein Recht, ernst genommen und gefördert zu werden und erfolgreich zu sein. Sie haben ein Recht darauf, Teil unserer Gesellschaft zu sein. Alle diese Kinder wollen ernst genommen und gefördert werden. Sie wollen lernen. Sie wollen anerkannt und wertgeschätzt werden. Sie wollen Teil der Klassen- und Schulgemeinschaft sein. Und sie wollen in ihrem Leben glücklich sein – und nicht scheitern, nicht ausgegrenzt werden.

Insgesamt erhöhter Förderbedarf

Allerdings kommt der Ausbau des inklusiven Unterrichts nur schleppend voran. In einigen Bundesländern ist er sogar rückläufig. Entsprechend ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland, die an Förderschulen unterrichtet werden, kaum gesunken und in manchen Bundesländern sogar gestiegen. Dies zeigt eine Auswertung der Bertelsmann Stiftung von Daten der Kultusministerkonferenz (KMK). Wurden im Schuljahr 2008/09 4,8 Prozent aller Kinder der Jahrgangsstufen 1 bis 10 in Förderschulen unterrichtet, so galt dies zehn Jahre später immer noch für 4,2 Prozent.

In Bayern gab es im Schuljahr 2018/19 insgesamt 76.907 Schülerinnen und Schüler, die ein Förderzentrum besuchen oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Das sind 8.148 mehr als 2009, dem Jahr des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention. Dabei gab es unterschiedliche Entwicklungen: Während die absolute Anzahl der Kinder und Jugendlichen an den Förderzentren in diesem Zeitraum um 2.642 abnahm, verdoppelte sich die Zahl der allgemein beschulten Kinder mit Förderbedarf. Auffällig dabei sind drei Dinge: Erstens geht die Verringerung der Zahl der Kinder an den Förderzentren mit einer gesamten Verringerung der Schülerzahlen einher und nicht mit einer Verringerung der Separationsquoten. Zweitens steigt seit einigen Jahren die Anzahl der Schülerinnen und Schüler an Förderzentren in Bayern gegen den bundesweiten Trend wieder leicht an. Drittens hat die Erhöhung der Zahl der inklusiv beschulten Kinder und Jugendlichen an den allgemeinen Schulen insbesondere mit einem insgesamt erhöhten Förderbedarf zu tun und weniger mit einer gelingenden Inklusion.

Grafik: Anzahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den allgemeinen Schulen und Schüler der Förderzentren:

 

*Für das Schuljahr 2017/2018 lagen im Rahmen der amtlichen Schulstatistik aufgrund einer Umstellung des Erhebungsverfahrens zu den Schülern mit sonderpädagogischer Förderung an Grund- und Mittelschulen keine belastbaren Daten vor. Daher wurde für diese Schularten im Mai 2018 eine Ersatzerhebung durchgeführt.

Inklusion und sonderpädagogischer Förderbedarf im Ländervergleich

Im Freistaat hat die Anzahl der Schülerinnen und Schüler an den Förderzentren vom Schuljahr 2009/10 bis 2017/18 um 5,6% abgenommen. Bundesweit waren es im gleichen Zeitraum 18,1%. Diese Entwicklung der Anzahl der Schülerinnen und Schüler an den Förderzentren unterscheidet sich in der Höhe sehr deutlich, wenn man die Bundesländer miteinander vergleicht. Prozentual ergab sich in Bayern die geringste Abnahme aller Länder, wobei in Sachsen eine Zunahme um 0,5% vorliegt.

Die Exklusions- bzw. Separationsquote in Bayern hat sich seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 sogar erhöht. Vom Schuljahr 2009/10 bis 2017/18 von 4,7% auf 4,9%. Deutschlandweit hat sich diese Quote von 4,9% auf 4,3% verringert. Der Freistaat ist mit Baden-Württemberg (von 4,9% auf etwas über 4,9%) und Rheinland Pfalz (von 3,8% auf 4,0%) nur eines von drei Bundesländern in denen sich eine Erhöhung ergeben hat.

Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler die an den allgemeinen Schulen inklusiv beschult werden, hat sich in Bayern im Berichtszeitraum um knapp 127% erhöht (von 10.917 auf 24.774), in ganz Deutschland allerdings um knapp 138% (von 95.475 auf 227.150).

Die Inklusionsquote in Bayern lag im Schuljahr 2009/10 bei 0,9%, in Deutschland bei 1,2%. Bis zum Schuljahr 2017/18 hat sich diese Quote im Freistaat auf 2,2%, in Deutschland auf 3,1% erhöht.

Der Inklusionsanteil hat sich im Berichtszeitraum in Bayern von 16% auf 31% erhöht, in Deutschland von 20% auf 42%. Allerdings hat dieser Inklusionsanteil nicht unbedingt Aussagekraft darüber, wie sehr Inklusion gelingt. Denn seit 2009 sind nicht etwa viele Kinder mit Förderbedarf aus den Förderzentren an die allgemeinen Schulen gekommen, es sind lediglich deutlich mehr Schüler als früher mit dem „Etikett“ Förderbedarf versehen (vgl. Kapitel 1). Der Exklusionsanteil ist also nicht gesunken parallel zu den steigenden Inklusionsquoten.

Tabelle: Anzahl der Schüler mit Förderbedarf und Quoten, Veränderungen seit dem SJ 2009/10                                                     

 

Elternwunsch und politisches Handeln klaffen auseinander

Wie eine Befragung von Eltern schulpflichtiger Kinder im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt, plädieren nahezu alle Eltern (94 Prozent) für das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne körperlicher Beeinträchtigung. Bei Kindern und Jugendlichen mit Sprachschwierigkeiten liegt der Zustimmungsanteil bei 71 Prozent, bei solchen mit Lernschwierigkeiten bei 66 Prozent. Lediglich die Inklusion von Kindern mit geistiger Behinderung oder mit Verhaltensauffälligkeiten im emotional-sozialen Bereich findet in der Elternmeinung keine Mehrheit. Gleichzeitig sind Eltern von inklusiv unterrichteten Kindern insgesamt zufriedener mit den Schulen, Klassen und Lehrkräften ihrer Kinder als Eltern ohne eigene Erfahrungen mit Inklusion.

Die positiven Einstellungen der Eltern liegen auf einer Linie mit bisherigen Forschungsbefunden zu Auswirkungen der Inklusion auf den Lernerfolg: Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf erzielen in inklusiven Klassen durchschnittlich bessere Resultate und erreichen öfter den Hauptschulabschluss als jene, die in Förderschulen unterrichtet werden. Gleichzeitig lassen sich beim gemeinsamen Unterricht keine Nachteile für das fachliche Lernen und gleichzeitig Vorteile für das soziale Lernen von Schülerinnen und Schülern ohne Förderbedarf erkennen.

Nicht „so nebenbei“ zu bewältigen

Die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf steigt in Bayern kontinuierlich an. Die damit verbundenen Herausforderungen auch: „Die Lehrkräfte fühlen sich allein gelassen“, bemängelt die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann. Sie könne den Frust nachvollziehen, denn die Schulen seien weder personell noch räumlich ausreichend auf Kinder mit Förderbedarf vorbereitet. „Kein Wunder, dass die sich daraus ergebenden Probleme als immense Belastung erlebt werden, obwohl Wille und Motivation bei den meisten Lehrkräften immer noch groß sind“, sagt Fleischmann. Die Schulen bräuchten endlich Unterstützung, z.B. in Form von multiprofessionellen Teams, die je nach Bedarf an den Schulen eingesetzt werden, stellt die BLLV-Präsidentin klar. Nur so könne es gelingen, alle Kinder und Jugendlichen - egal, ob mit oder ohne sonderpädagogischem Förderbedarf - in ihren vielfältigen Bedürfnissen, Interessen, Potentialen, sozialen Problemen und Lebensmodellen individuell zu fördern und in ihrem Lernprozess angemessen begleiten zu können.

Inklusion sei ein großes Thema und werde die Schulen dauerhaft begleiten, denn Schülerzahlen und Diagnosen steigen, analysiert Fleischmann: „Die Politik muss deshalb reagieren und anerkennen, dass die damit verbundenen Aufgaben nicht ‚so nebenbei‘ und mit den gegebenen Personalengpässen zu bewältigen sind“, fordert sie. Im Gegenteil: Die Lehrkräfte bräuchten Zeit, damit eine nachhaltige Beziehung zwischen den Kindern und ihren Pädagogen entstehen kann.“ Es brauche aber auch Begeisterung für diese Aufgabe. Diese könne nur entstehen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben seien.

Zeit für Kooperation, Kommunikation, Fortbildung

Linderung könnte aus Sicht des BLLV auch eine verbesserte Klassenbildung schaffen, etwa durch eine Mehrfachzählung der Kinder mit Förderbedarf in den Regelschulen. Darüber hinaus wären Zeitressourcen für multiprofessionelle Teams sinnvoll, sowohl für die Förderung in der Klasse wie auch für die Unterstützung an der Schule. „Für die Lehrerinnen und Lehrer wäre auch ausreichend Zeit für Vorbereitung, Kooperation und Fortbildungen von zentraler Bedeutung", sagt Fleischmann. Eine erfolgreiche Umsetzung der Inklusion könne schließlich nur auf Grundlage von Austausch, Kooperation und Kommunikation der Lehrkräfte untereinander und mit den anderen Fachkräften gelingen, ist die BLLV-Präsidentin überzeugt.

Auch Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung anlässlich der Veröffentlichung der Studie: „Inklusion muss mehr als eine Wunschvorstellung sein. Es reicht nicht aus, dass die Politik vollmundige Versprechen macht. Sie muss den Schulen auch die entsprechenden Bedingungen bereitstellen, damit alle Kinder in einer Lerngruppe gemeinsam lernen können. Das beginnt bei den schulbaulichen Voraussetzungen, reicht über eine inklusionsfreundliche Schulkultur und muss die Fortbildung der Lehrkräfte unbedingt im Blick haben. Zudem braucht es die Unterstützung durch multiprofessionelle Teams, denen gerade mit Blick auf die aktuelle Lage und Inklusion auch Schulgesundheitsfachkräfte angehören müssen“.

Dateien zum Thema:

Studie der Bertelsmann-Stiftung: Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten

Pressemitteilung des VBE zur Studie: Mehr Schatten als Licht

BLLV: 12 Thesen zur schulischen Inklusion

BLLV: Das Handlungsfeld Inklusion in der Expertise Zeit für Bildung: gerecht.investieren



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