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Auge in Auge mit dem Roboter

In China lernen Kinder von Maschinen auf zwei Beinen. Zeit für den Kampf um alte Gewissheiten - auch bei uns in Bayern. Der politische Kommentar von BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann aus der bayerischen Schule #1 2019.

Diee freundliche Frau öffnet die Tür, und ich trete ein in die Vorschule der Zukunft: Sieben Roboter bewegen sich auf Augenhöhe mit zwei Dutzend Kindern im Alter von drei Jahren und zwinkern sie immer wieder an. Die Kinder lachen und freuen sich, reden mit den Robotern, lauschen ihnen aufmerksam und schauen aufs Display an deren Brust. Dann beginnt das moderne Lernen.

Im Zimmer nebenan: 20 Kinder im Alter von vier Jahren. Schwarze Kulleraugen richten sich auf mich, dann geht ihr Blick zurück zur Erzieherin. Alle haben die gleichen Jacken an. Sie sitzen brav auf ihren Stühlchen und schauen konzentriert zur Projektionsfläche. Die Erzieherin hält einen Vortrag über Sicherheitsmaßnahmen im Straßenverkehr. Auf Fragen antworten alle im Chor. Ansonsten ist es mucks- mäuschenstill. Ihre Hände haben die Kinder hinter dem Rücken verschränkt. Das ist auch Lernen.

Und im Eingangsbereich: der Morning-Check-Roboter. Alle Kinder warten still und diszipliniert in Reih und Glied. Jedes stellt sich, wenn es am Roboter angekommen ist, für ein paar Sekunden schweigend auf die aufgezeichneten Fußabdrücke. In Sekundenschnelle werden Temperatur, Größe, der BMI und vieles mehr gemessen. Die Daten werden jeden Tag registriert und aufgezeichnet – Tag für Tag, jahre- lang – ein Leben lang? Das nennt man datenbasiertes Lernen.

Wo bleibt der Mensch?

Das ist kein Science Fiction oder einfach ein schlechter Film. Es ist Realität. Es ist das, was ich im November bei einer Vortragsreise in der Millionenstadt Suzhou westlich von Shanghai erlebt habe. Dort sollte ich im Rahmen einer Fachmesse für die Kindergärten und Grundschulen Chinas über frühkindliche Erziehung und Bildung in Bayern sprechen. Erst einmal war ich allerdings sprachlos. Hin- und herg  rissen zwischen Zweifel und Sorge einerseits, aber auch Neugier und Faszination andererseits.

Immer wieder kreisen seither meine Gedanken um die Fragen: Wird das die Zukunft – auch bei uns? Wird diese Erziehung die wirtschaftliche und politische Macht Chinas soweit voranbringen, dass wir nachziehen müssen, weil unsere Volkswirtschaften sonst nicht mithalten können? Sind gleichgeschaltete Gesellschaften letztendlich nicht die erfolgreicheren, mächtigeren, überlegenen?

All diese Überlegungen führen zu der Frage: Welche Gesellschaft wollen wir, und welches Menschenbild liegt unserem Handeln in Politik, Wirtschaft und Schule zugrunde? Wo bleibt der Mensch? Wo bleibt der Lehrer, die Lehrerin? Wo bleibt das Kind? Kann am Ende der Roboter wirklich mehr Wissen und Kompetenzen vermitteln? Und das individueller als jede Lehrerin, als jeder Erzieher?

Zeitenwende

Wir leben in einer Zeitenwende. Alte Gewissheiten lösen sich auf, wir spüren, es wird ernst, sehr ernst mit den Veränderungen unserer Welt. Und wir sind mittendrin – die Kindergärten, die Schulen, die Universitäten, wir Lehrerinnen und Lehrer.

Kommt diese neue digitale Welt über uns wie eine Naturgewalt, schicksalhaft und ohne dass wir es verhindern könnten? Macht es überhaupt Sinn, dagegenzuhalten? Ist es nicht wirklich der Weg zur besten individuellen Förderung, zur Bildungsgerechtigkeit und Effizienz im Schulwesen? Ganz ohne Lehrer, mit datenbasiertem Lernen mithilfe des Roboters? Digitales Lernen eben.

Herz, Kopf, Hand statt Bits und Bytes

Das Motto der nächsten Landesdelegiertenkonferenz des BLLV im Mai 2019 lautet: Herz. Kopf. Hand. – Zeit für Menschen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der ganzheitliche Bildungsbegriff Pestalozzis aktueller ist denn je, auch wenn er über 250 Jahre alt ist. Es geht um eine ganzheitliche Pädagogik und um eine menschliche Schule. Nicht das gleichgeschaltete Funktionieren, nicht die höchste Effizienz, nicht die seelenlose Selbstoptimierung können unsere Werte und unsere Ziele in der Schule sein.

Die gesellschaftlichen Veränderungen werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch schneller und grundsätzlicher geschehen als bisher. Das ist durchaus beängstigend. Die Versuchungen einer entmenschlichten Digitalisierung unter dem Deckmantel einer immer besseren Zukunft sind groß, aber sie sind trügerisch. Als Pädagoginnen und Pädagogen müssen wir wissen: Zur Ganzheit des Men- schen gehört die menschliche Bezie- hung und nicht das gleichgeschaltete Funktionieren.

Um diesen Kern unseres pädagogischen Handelns werden wir kämpfen müssen. Das wird eine unserer wichtigsten Aufgaben – als Lehrerinnen und Lehrer, und als BLLV.

Simone Fleischmann

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