Das hat eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München ergeben. Prof. Dr. Amelie Wuppermann* stellte sie beim BLLV-Kamingespräch vor. Wir haben mit ihr über die Hintergründe gesprochen.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Einschulung gerade erst sechs Jahre alt gewordene Kinder später eine ADHS-Diagnose erhalten?
Prof. Wuppermann: Die Wahrscheinlichkeit liegt um 25 Prozent höher als bei den fast ein Jahr älteren Kindern.
So junge Kinder sind altersbedingt impulsiver als ihre älteren Klassenkameraden. Führt der Vergleich innerhalb der Klasse zu falschen Diagnosen?
Das ist zu vermuten, aber schwer nachzuweisen, weil ADHS nur schwer objektiv zu messen ist. Ein Teil der Diagnosen dürfte wohl auf den altersbedingten Entwicklungsrückstand der jungen Kinder in einer Klasse im Vergleich zu ihren älteren Mitschülern zurückzuführen sein. Ihr Verhalten wird vermutlich als ADHS fehlinterpretiert.
Werden also auch Kinder behandelt, die gar nicht an ADHS leiden?
Anhand der uns vorliegenden Daten können wir diese Frage nicht beantworten. Aber ich vermute, dass sich unter diesen Kindern auch Jungen und Mädchen befinden, die nicht krank sind.
Was bedeuten die Studienergebnisse für die Einschulung? Schulen wir zu früh ein?
Es geht nicht um die Frage, ob man Kinder mit fünf oder mit sechs Jahren einschulen soll. Das zeigt der Vergleich von Bundesländern, in denen alle Kinder bei der Einschulung bereits sechs Jahre alt sind, mit Bundesländern wie Berlin, in denen viele Kinder bereits mit fünf eingeschult werden. In beiden Fällen haben jeweils die jüngsten einer Klasse ein erhöhtes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu erhalten. Es geht also um die relative Altersposition in der Klasse. Rein stichtagsbezogene Verfahren zur Einschulung halte ich daher nicht für sinnvoll. Stattdessen sollte für jedes Kind individuell entschieden werden, ob es zum Zeitpunkt der Einschulung schulreif ist. Einige Bundesländer halten sich rigoros an die Stichtage, in Bayern handhabt man das aber flexibler und im Zweifelsfall können Kinder nach der Schuleingangsuntersuchung aufgrund mangelnder Schulreife zurückgestellt werden.
Welche Rolle spielen die Erwartungen von Eltern?
In Landkreisen, in denen überdurchschnittlich viele Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen wohnen, bekommen auch mehr Kinder, die kurz vor dem Stichtag geboren sind und damit zu den jüngsten ihrer Klasse gehören, eine ADHS-Diagnose. Das deutet darauf hin, dass die Eltern eine Rolle spielen. Was aber die genauen Gründe sind, können wir aus unseren Daten nicht herauslesen.
Und die Unterrichtsbedingungen?
In Landkreisen mit überdurchschnittlichen vielen großen Klassen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein relativ junges Kind eine ADHS-Diagnose bekommt, ebenfalls größer.
Sollten wir unsere Einstellung zu ADHS und zum Verhalten von Kindern hinterfragen?
Wir sollten bei allen Beteiligten – Eltern, Lehrkräften und Ärzten – ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ADHS-Symptome altersbedingt sein können und nicht krankhaft sein müssen. Für die Diagnose von ADHS wäre es daher wichtig, tatsächlich gleichaltrige Kinder und nicht etwa Kinder in derselben Klasse, die ja im Zweifel ein Jahr älter sein können, zum Vergleich heranzuziehen. Zurzeit werden die Diagnose-Leitlinien für ADHS überarbeitet und ich fände es gut, wenn darin ein entsprechender Hinweis aufgenommen würde. Denn ein Jahr Altersunterschied macht bei Kindern viel aus.
Die Fragen stellte Robert Haberer
* Zur Person
Prof. Dr. Amelie Wuppermann ist seit 2012 Juniorprofessorin für Mikroökonometrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort unterrichtet sie Studierende in statistischen Methoden und Gesundheitsökonomik und forscht zu Themen aus der Gesundheitsökonomik. Unter anderem beschäftigt sie sich mit der Frage, wie bildungspolitische Maßnahmen die Gesundheit von Kindern beeinflussen.
Über die ADHS-Studie zur Einschulung
Für die Untersuchung analysierte die Gesundheitsökonomin Prof. Dr. Amelie Wuppermann von der ärztliche Abrechnungsdaten von mehr als sieben Millionen Kindern aus den Jahren 2008 bis 2011. Die Ergebnisse veröffentlichte sie 2015. Resultat: Von den jüngeren Kindern, die im Monat vor dem Stichtag geboren sind, erhielten im Laufe der nächsten Jahre 5,3 Prozent eine ADHS-Diagnose, bei den älteren Kindern, die nach dem Stichtag geboren waren, 4,3 Prozent. Prof. Dr. Wuppermann stellte einen robusten Zusammenhang zwischen der Altersposition der Kinder in ihrer Klassenstufe und der Häufigkeit von ADHS-Diagnosen fest.