Warum ist SEL, also das sozial-emotionale Lernen nicht stärker in deutschen Curricula und Lehrplänen vertreten?
Das Forschungsfeld des "Sozial-Emotionalen Lernens (SEL)" ist in der Breite seiner empirischen Belege noch relativ neu. Zur Beziehungsqualität zwischen Schüler und Lehrer und den Auswirkungen auf das Lernen gibt es zwar schon einiges, doch es ist nach wie vor nicht im Fokus der Ausbilder. Es liegt vielleicht daran, dass es immer noch so wenig Interdisziplinarität in Deutschland gibt - bis hin zum Fachlehrerdenken...
Was ist daran verkehrt?
Mathematiklehrer setzen beispielsweise nicht ein Hundertstel dessen um, was sie in ihrem Studium gelernt haben und müssten dafür eigentlich ganz andere Kompetenzen erwerben. Wenn Sie darüber nachdenken, wie viel frei verfügbares Wissen es im Internet gibt - was für eine Berechtigung haben Lehrer dann irgendwann noch? Überhaupt keine mehr, sofern sie nur das Wissen mitbringen und nicht noch ganz andere Kompetenzen haben!
Mein Verständnis von Feinfühligkeit bedeutet einen veränderten Blick auf Pädagogik und die Kompetenzen, die pädagogische Arbeit braucht - und auf das, was wichtig ist, damit Kinder sich gut entwickeln. Das umzusetzen, wird eine Zeit brauchen und wir müssen damit auf allen Ebenen ansetzen.
Individuelle Bildungsprozesse und die Analyse von Interaktionsprozessen in der Methodik und Didaktik kindgemäßen Lernens sind also schon als wichtig erkannt worden - warum hat sich dennoch in der Pädagogenausbildung so wenig geändert?
Vielleicht passt es gut in unsere historische Tradition, in unsere Leistungsgesellschaft. Nach dem Motto: "Die besten kommen durch, um die übrigen ist's nicht schad'!" Wir denken Bildung nicht vom Kind, seiner Entwicklung und seinen Bedürfnissen aus, sondern ausgehend von den Institutionen. Wir denken nicht, wie muss Schule aussehen, damit sie vielen Kindern gut tut? Sondern: was müssen Schüler können, damit sie eine bestimmte Schule besuchen dürfen.
Aber wenn wir uns nach der UN-Charta in Bezug auf Inklusion richten möchten, werden wir umdenken müssen. Das wird ein lange dauern und es wird ein harter Weg, besonders für Deutschland - und besonders für Bayern.
Auf welchem Gebiet ist die frühkindliche Erziehung in Bayern Ihrer Ansicht nach außerdem reformbedürftig?
Die Anforderungen an den Beruf sind extrem gestiegen, durch den Qualitätsanspruch, die Inklusion, die Heterogenität der Gesellschaft - und die Kinder, die immer länger und immer früher betreut werden sollen...
Das Ausbildungsniveau in Deutschland muss deswegen erhöht werden. In anderen europäischen Ländern ist die Ausbildung längst auf Hochschulniveau, wie etwa in Frankreich, wo Grundschullehrer und Erzieher zu weiten Teilen ein gemeinsames Studium absolvieren; nur die Schwerpunkte ganz am Schluss werden dann spezifisch.
Wobei würde eine Akademisierung der Ausbildung hierzulande helfen?
Wir brauchen diese Weiterentwicklung, diese Aufwertung der Ausbildung, weil es sonst weiterhin zu Überforderung und Überlastungssituationen kommt. Wenn den wachsenden Ansprüchen nicht die entsprechenden Ressourcen gegenüberstehen, ist das frustrierend für alle Beteiligten. Die ist ja auch der Grund dafür, wieso so viele KinderpflegerInnen und ErzieherInnen das Berufsfeld wechseln: wenn man sich überfordert, ausgenutzt und falsch behandelt fühlt, kann das nicht gut sein.
Ist vor diesem Hintergrund der Beruf des Kinderpflegers als pädagogischer Hilfskraft überhaupt noch zeitgemäß?
Der Berufsstand des Kinderpflegers wurde in den übrigen Bundesländern, z.B. in Hessen, schon längst abgeschafft. Es ist ja nicht so, dass wir keine Assistenzkräfte brauchen - aber diese dürfen dann nicht mit der Verantwortung allein gelassen werden. Diese Erkenntnis ist alt - deshalb gibt es auch Anstrengungen an so vielen Stellen: auf der Fach-, der Experten-, der Administrationsebene, wird an einem durchlässigeren System gearbeitet, wo man sich weiterentwickeln kann.
Ist mangelnde Bezahlung der Grund, warum sich kaum Akademiker für den Erzieherberuf entscheiden?
Ja. Wenn Erzieher nebenberuflich studieren um den Bachelor zu erwerben, oder hinterher zu ihrem alten Arbeitgeber zurückkehren, so werden sie deswegen nicht besser bezahlt. Ich halte das für eine Unverschämtheit, doch es ist das Resultat komplizierter Tarifverhandlungen der Gewerkschaften; einem System, wo auch gerne die eine gegen die andere Berufsgruppe aus-gespielt wird.
Wir als Forscher, oder das Bayerische Sozialministerium, wir sind keine Tarifpartner - haben also keinen Einfluss auf Gehaltsstrukturen. Trotzdem muss da etwas passieren, und ich hoffe -und denke- es wird auch kommen.
Geht es also zuallererst ums Geld?
Nein. In privaten und sehr teuren Einrichtungen mit doppelt so viel Personal und den sprichwörtlichen goldenen Wasserhähnen kann die Betreuungsqualität trotz traumhafter Arbeitsbedingungen schlecht sein - und dort wo der Putz von der Decke kommt, werden die Kinder gut aufgenommen und sie gehen gerne hin. Ich will nicht sagen, dass man unter allen Umständen gute pädagogische Arbeit machen kann, aber... Auch unter besten Bedingungen kann man grottenschlechte Pädagogik machen, wenn man nicht weiß, worum es eigentlich geht!
Wie könnten durch Auswahl und Ausbildung eines Pädagogen dessen sozialen und emotionalen Kompetenzen bestmöglich gefördert werden?
Auswahl ist schon sehr wichtig. Wir wissen etwa, dass viele den Beruf des Erziehers ergreifen, weil sie nicht wissen, was sie sonst machen sollen; dieser Anteil ist hier höher als in anderen Berufsgruppen. Wenn wir aber Veränderung wollen und eine stärkere Fokussierung der Vermittlung von Befähigungen im sozial-emotionalen Bereich und mehr Interaktionsqualität, dann braucht es ausbildungsseitig eine Neuausrichtung und neue Methoden von Anfang an.
Und was brauchen gute Erzieher idealerweise für Arbeitsbedingungen?
Sie brauchen Entlastung von allen nichtpädagogischen Aufgaben und ein Drittel Arbeitszeit für die mittelbare pädagogische Arbeit, also für Vor- und Nachbereitung der Arbeit mit den Kindern und für Elterngespräche. Die richtige Leitung ist ganz wichtig, sie muss etwas können - und am besten ist es, wenn sie vom Erziehungsdienst freigestellt bleibt um auch Zeit für Teamführung, Mitarbeiterentwicklung und Vernetzung und Kooperation hat.
Welchen Betreuungsschlüssel halten Sie persönlich für angemessen?
Mit einem Schlüssel von 1:8 bei den Drei- bis Sechsjährigen kann man leben, wenn alle Kinder aus geordneten Verhältnissen kommen und gesund sind. Unter der Prämisse der Inklusion sieht das schon wieder ganz anders aus...
Und dieser Schlüssel macht Sinn in Bildungseinrichtungen mit multidisziplinären Teams, wo die Pädagogen sich rein auf ihre pädagogische Arbeit konzentrieren können. Es ist ganz wichtig, dass solche Dinge wie Verwaltung und Hauswirtschaft nicht auch noch am Erziehungspersonal und seiner Leitung hängenbleiben. Die Fachkräfte sollen sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren.
Was empfehlen Sie KitaleiterInnen in so genannten Problemvierteln?
Man kann an den Arbeitsbedingungen viel verändern, gerade wenn man Kitas in schwierigen Bezirken vernetzt mit anderen Akteuren innerhalb des Sozialraums und ihnen mehr Ressourcen gibt usw. Ich würde sagen, dass eine Ressourcenbündelung am besten wäre, wo wir aus Kindergärten Kinder- und Familienzentren machen, gemeinsam mit allen anderen Akteuren. Die werden so zu einem wichtigen Knotenpunkt im Sozialraum und können vieles verbessern.
Öffnung und Vernetzung also, was wiederum auch von den kommunalen Verantwortlichen abhängt, um die Sozialquartiere zu verändern, weg vom Klein-Klein. Man muss einfach größer denken, um die Probleme zu lösen.
Warum gibt es heute mehr Kinder, die einen höheren sozial-emotionalen Entwicklungsbedarf haben?
Es kommen mehr Kinder in die Kita und dies auch viel eher als zuvor - und jedes von ihnen ein Recht auf Bildung. Gleichzeitig ist die Gesellschaft ist heterogener geworden und damit die Unterschiede zwischen den Kindern und ihren Familien so viel größer... Die Frage darf nicht sein, ob die Kinder defizitärer geworden sind, sondern wie wir die Kitas verändern müssen, damit wir diesen Kindern, die so viel Leid erfahren und so viel Not haben, gerecht werden und ihnen helfen können?
Die Bildungseinrichtung kann die Herausforderungen dieses Berufsstandes nicht alleine meistern, sie und erst recht nicht die Erzieherin können das Kind allein zu einem sozial kompetenten Menschen machen. Wieder: man muss das große Ganze sehen, um die Probleme lösen zu können.
Welches sind Ihre weiteren Ziele, beispielsweise in puncto Bildungs- und Erziehungsplan?
Wir haben neben dem BEP ja die Bildungsleitlinie für den Elementarbereich erarbeitet, die sind knapper und aktueller. Diese Bedeutung von SEL würde ich deutlich in den Mittelpunkt stellen, und dabei aufzeigen, wie sie erlernbar und wie sie lehrbar sind. Das erforschen wir ja gerade... und man kann das den Erziehenden erstaunlich schnell vermitteln.
Es geht aber nicht nur darum, die Ausbildung zu verändern - weil es dauert, bis die Leute dann in den Kitas ankommen - wir müssen vielmehr helfend und unterstützend in die heutige Praxis eingreifen: wie etwa durch das Projekt der Pädagogischen Qualitätsbegleitung (PQB). Aber mein Schwerpunkt ist die Interaktionsqualität. Sie ist das, was das einzelne Kind am eigenen Leib erfährt, und dort muss man ansetzen.
Ist der massive Ausbau von Betreuungsplätzen wie er gerade geschieht förderlich oder hinderlich für Reformen?
Es gibt in keinem anderen Dienstleistungsbereich so eine Explosion an Arbeitsplätzen wie in diesem. Es lassen sich wahnsinnig viele Menschen zu ErzieherInnen ausbilden. Der Berufsstand an sich ist schon immer noch attraktiv und es wird auch viel dafür gemacht, so ist es nicht... es gibt bloß diese Kollision zwischen massiven Ausbau an Kitaplätzen und dem Nicht-Nachkommen von Bildungseinrichtungen. Die personelle Not in den Ballungszentren ist letztendlich überall die gleiche. Die Frage ist, wie gehen wir verantwortlich damit um?