Nach der Schulleistung werden Kinder versetzt oder nicht versetzt, in höhere oder niedrigere Kursniveaus geschickt oder den verschiedenen Schultypen zugewiesen. Als Leistung gilt das, was in bestimmten Prüfungen und durch Ziffernnoten ausgedrückt und rechtskräftig dokumentiert ist.
Da diese normierten Leistungsmessungen in der Regel auf die Gauß'sche Normalverteilung hin orientiert sind, ist von vornherein ein bestimmter Anteil von Nichterfolg programmiert. Diese Art der Leistungsmessung ist fehlerorientiert. Sie erhebt den Anspruch auf Objektivität, und muss deswegen bestimmten formalen Kriterien genügen, um als justiziabel gelten zu können. Dies hat eine Fixierung auf Teilaspekte und punktuelle Erhebungen zu Folge. Im Wesentlichen wird schriftliche Leistung in Einzelarbeit abgeprüft. Weitere Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Fantasie und mündliche Ausdrucksfähigkeit werden nicht hinreichend berücksichtigt.
Schule, die als Aufgabe stärker die Zuweisung von Lebenschancen als die Förderung von Kompetenz und Leistungsfähigkeit zugewiesen bekommt, konzentriert sich auf die Ermittlung von Defiziten statt auf deren Kompensation. Zertifizierung dominiert Förderung. Damit ist Schule ein Spiegelbild unserer Konkurrenzgesellschaft.
Aber Schule bildet Gesellschaft nicht nur ab, sie ist auch in der Lage, zur Veränderung der Gesellschaft einen Beitrag zu leisten. Dazu muss sie ein anderes Leistungsverständnis etablieren. Hierzu bedarf es ein Umdenken im System Schule. Die Dominanz der Selektionsfunktion von Schule muss gebrochen werden. Wir müssen weg vom Zwang zur ständigen Einordnung der Schülerinnen und Schüler in vermeintlich homogene Lerngruppen. Nur wenn Heterogenität akzeptiert wird, kann zukünftig eine neue Lern-und Leistungskultur entstehen, in der nachhaltiges Lernen im Sinne einer echten Kompetenzaneignung im Vordergrund steht.
Das neue Leistungsverständnis
Die gesellschaftlichen Veränderungen und die steigende Heterogenität in den Schulen verlangen nach einem neuen, zeitgemäßen Verständnis von Leistung. Dass alle zur gleichen Zeit dasselbe leisten sollen bedeutet, dass individuelle Bedürfnisse außer Acht gelassen werden. Wir brauchen eine Schule, in der alle Kinder etwas leisten können und dürfen!
Um jedes Kind ganzheitlich zu fördern, braucht es eine individuelle, prozesshafte Sicht auf die Entwicklung, den Lernfortschritt und die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten der Schülerinnen und Schüler.
Voraussetzung dafür ist eine angepasste Rechtslage zwischen altem und neuem Leistungsverständnis. Folgende Voraussetzungen und Bedingungen müssen außerdem erfüllt sein:
1. Ein verändertes Verständnis von Leistung in der Schule
a) Schule soll ein Ort der Wertschätzung und des gegenseitigen Vertrauens sein. Das heißt auch, dass alle Akteure (Schüler, Eltern, Lehrkräfte) in den Lernprozess des Kindes einbezogen werden, indem z.B. gemeinsame Ziele formuliert werden. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, die Selbsteinschätzung mit der Fremdeinschätzung abzugleichen.
b) Für Lehrerinnen und Lehrer müssen zeitliche Räume geschaffen werden, um den Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern individuelle Lernfortschrittsrückmeldung zu geben.
2. Ein verändertes Verständnis von Leistung im Unterricht
a) Lernen ist als ein Prozess aufzufassen. Leistung ist dabei als ein Faktor von individuellem Fortschritt zu sehen. Im Zentrum steht das Prinzip der Förderung! Lerncoaching und Lernberatung sind dabei Handlungsparadigmen einer professionellen Lernentwicklungsbegleitung.
b) Die Etablierung der unterrichtlichen Diagnostik ist die Voraussetzung dafür, dass Lehrkräfte in der Lage sind, individuelles Lernen zu analysieren und zu begleiten und Lernerfolg zu planen.
c) Wenn Lernen als eine Funktion von selbst erbrachter Leistung betrachtet wird, ermöglicht dies den Schülerinnen und Schülern, Leistungszuversicht aus sich heraus zu entwickeln. Eine große Chance für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte ist hierbei, Fehler riskieren zu dürfen, um aus ihnen lernen zu können. Hierzu bedarf es einer vertrauensvollen Lernkultur.
d) Schülerinnen und Schüler sind auf kontinuierliche Lernfortschrittsrückmeldung angewiesen. Diese sollten aber nicht nur über Form von Noten geschehen. Sie brauchen Feedback über ihren individuellen Lernfortschritt und ihre Entwicklung. Lernfortschrittsrückmeldungen sind für die Lernenden und Lehrkräfte gewinnbringend, wenn sie kontinuierlich, konkret und konstruktiv sind:
- Feed up: Wohin soll es gehen, was ist das langfristige Ziel?
- Feed back: Wo steht der Schüler momentan und wie kam er dorthin?
- Feed forward: Welche nächsten Schritte gilt es zu tun?
e) Lernphasen und benotete Bewertungsphasen sind transparent zu gestalten, wobei nicht auf jede Lernphase eine Bewertung folgen muss. Kinder und Jugendliche brauchen Zeit, um sich entwickeln zu können, denn Lernen bedeutet kontinuierliche Weiterentwicklung. Hierbei müssen die Beurteilungskriterien für die Schülerinnen und Schüler ersichtlich sein.
f) Die Möglichkeiten, alternative Leistungsrückmeldungen einzusetzen, müssen verbessert werden. Ein auf Kompetenzorientierung basierendes Lernverständnis erfordert eine individuelle und prozessorientierte Leistungsbeurteilung.
g) Der Zeitpunkt benotender Leistungsbewertung sollte weitestgehend individuell festgelegt werden können.
3. Ein verändertes Verständnis von Leistung in der Lehrerbildung
a) Ein verändertes Verständnis von Leistung in der Schule muss Auswirkungen auf die Lehrerbildung, das Professionsverständnis des Lehrers und das Bild der Lehrerpersönlichkeit haben. Das neue Leistungsverständnis sollte bereits im Studium erfahren (z.B. durch eine veränderte Prüfungskultur) und in den weiteren Phasen der Lehrerbildung entsprechend fortgesetzt werden. Hierzu ist eine bessere Verzahnung und Abstimmung zwischen den Ausbildungsphasen notwendig.
b) Die diagnostischen Kompetenzen der Lehrerinnen und Lehrer sind für eine verändertes Leistungsverständnis von großer Bedeutung. Diese Kompetenzen müssen in allen Phasen der Lehrerbildung verstärkt gefördert werden: Die Lerndiagnose ist hierbei zum einen eine Rückmeldung für Schülerinnen und Schüler, eine Chance, um in ihrem individuellen Lernprozess voran zu kommen. Zum anderen dient die Lerndiagnose der Lehrkraft zur Verbesserung der Unterrichtsqualität, damit sie die Kinder und Jugendlichen bestmöglich begleiten kann.
Der BLLV fordert deshalb ein pädagogisches Leistungsverständnis, das den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin ins Zentrum rückt. Nur so kann ein realistisches Selbstbild aufgebaut und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit geschaffen werden. Dies fördert die Lernfreude, erhält sie und entwickelt sie weiter.
Aus diesem Grund fordert der BLLV veränderte Rahmen- und Arbeitsbedingungen für alle Lehrkräfte. Nur so kann das veränderte Leistungsverständnis und die 11 Punkte des Forderungskatalogs umgesetzt werden.
Die langfristige Perspektive bedeutet dann, dass es dabei um die Gestaltung einer veränderten Leistungskultur anstelle einer Konkurrenzkultur geht. Mithilfe von individueller Förderung und individueller Leistungsrückmeldung kann der Lernende persönliche Ziele festlegen und diese erfolgreich erreichen.
Das braucht Zeit! Zeit für Bildung! Zeit für ein neues Leistungsverständnis!