Die eigenen Fähigkeiten selbst einschätzen, sich ein Lernziel fassen, und dafür eine Methode entwickeln, anwenden und beurteilen: Dazu soll das Selbstregulierte Lernen (SRL) einen Schüler befähigen. Im Regensburger Modell lernen die Kinder zu Beginn eine Woche lang, was SRL ist und wie es funktioniert. Sie verstehen, warum es nichts bringt, nur das zu üben, was man besonders gut kann. In Lerntagebüchern sehen sie ihre Fortschritte oder registrieren, wenn eine Methode nicht funktioniert.
"Die Schüler sind gerührt von der Botschaft, dass sie selbst es in der Hand haben, sich zu verbessern“
Gabriele Stier hat in ihrer 4. Klasse die Methode des Selbstregulierten Lernens (SRL) mit ihren Schülern ausprobiert. Ihre Klasse war eine der Testklassen, in denen die Wissenschaftler des Regensburger Instituts für Pädagogik ein genaues Konzept vorgaben, wie mit SRL gearbeitet werden soll, und in denen sie die Leistungfortschritte evaluierten. Stier unterrichtet 19 Schüler, davon zwei mit sonderpädagogischem Förderbedarf und sieben mit nichtdeutscher Herkunftssprache. Im Interview berichtet sie von ihren Erfahrungen.
BLLV: Wenn Sie Kindern das SRL zum ersten Mal erklären, wie reagieren die? Begreifen sie den Unterschied zum sonstigen Unterricht?
Stier: Das Vorstellen von SRL war eine pädagogische Sternstunde. Die Schüler sind fast schon gerührt von der Botschaft, sie selber hätten es in der Hand, schrittweise und ohne „Büffelei“ oder Zauberei im Verstehen von Texten besser zu werden. Sich selber einschätzen und sich selber überwachen zu dürfen, das regt sie an. Vor allem die Analogie zum Sport, die Idee des Trainings, spornt sie an.
Erleben Sie Kinder beim SRL ratlos? Wann? Was machen Sie dann?
Stier: Vor allem bei der eigenständigen Wahl der Strategie und der Strategieanpassung, falls sie merken, dass sie nicht weiter kommen. Oft bemerken sie aber gar nicht erst, dass sie nicht weiterkommen, und brauchen Hilfe beim Monitoring. Ich spiegele dann, mache Vorschläge. Ich appelliere nicht an Anstrengung oder Konzentration, sondern versuche, ihre Vorgehensweise zu erkunden und neue vorzuschlagen.
Wie würden Sie das Funktionsprinzip von Lernen, wie es bislang im Unterricht stattfindet, beschreiben?
Stier: Bislang besprechen wir in der Schule das Lernen und Strategien dafür kaum. Grundschülern werden solche Metakognitionen nicht zugetraut. Gerade Schülern mit Lern- und Leistungsproblemen schlagen wir meist Methoden vor, die zu allgemein, zu abstrakt sind, und damit sinnlos. Wir sagen: Lies genauer, übe fleißiger. Wir geben den Schülern keine kleinschrittigen und klar strukturierten inhaltsbezogenen Strategien an die Hand. Wir lassen den Kindern keine Zeit, das Lernen zu lernen. Wie Kinder faktisch im Unterricht lernen, wurde bisher kaum thematisiert und auch als kaum wandelbar betrachtet. Das war und ist an den meisten Schulen noch eine „Black Box“.
Ist SRL nicht deutlich aufwendiger als der reguläre Unterricht?
Stier: Doch schon, zumindest zu Beginn. Es braucht Zeit und Arbeit, um allen Kindern bei ihrer Selbsteinschätzung und Selbstüberwachung zu helfen. Aber es lohnt sich, denn über kurz oder lang internalisieren Schüler das Prozedere. Vorausgesetzt, sie können die Methode lang genug üben, und am besten natürlich im gesamten Unterricht.
Welche Kinder profitieren besonders von der Anleitung zum SRL?
Stier: In meiner Lerngruppe eigentlich alle. Die leistungsstärkeren Schüler merkten, wie sie lernen und dass sie einige Aspekte des Trainings unbewusst immer schon praktizierten – eine schöne Selbsterkenntnis.
Und die schwächeren Schüler?
Stier: Gerade Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und die Migrantenkinder haben besonders profitiert! Auch weil wir das Training an ihren Lernstand anpassten. Das wiederholende Arbeitsmuster kam ihnen sehr entgegen: immer dieselben Schritte des Lernkreises, immer zehn Hauptaussagen etc. Diese Kinder erlebten sich im Deutschunterricht wahrscheinlich zum ersten Mal als kompetent und waren zumindest in den ersten Wochen sehr motiviert. Allerdings weiß ich nicht, ob und inwieweit sie das strategische Wissen auf andere Texte oder Lernthemen übertrugen. Dafür hätten sie auch nach dem Training noch intensive Betreuung gebraucht.
Wenn es beispielsweise um das Lernziel geht: Wie vermeiden Sie, dass sich Kinder zu sehr daran orientieren, was der Banknachbar sich für ein Ziel setzt?
Stier: Ich mache klar, dass nichts benotet wird, und es wirklich nur um ihre individuellen Fortschritte geht. Dardurch ist ihnen bald egal, wie gut der Nachbar ist. Anschaulich ist der Vergleich mit einem Arzt: Ein Arzt bewertet seinen Patienten nicht, er versucht durch die richtigen Fragen herauszufinden, was für ein Problem, welche Krankheit sein Patient hat. Nur dann kann er eine geeignete und erfolgreiche Therapie finden. Und der Kranke ist höchstinteressiert an einer richtigen, ehrlichen Diagnose.
Beim Verbessern des Leseverstehens ist es ähnlich?
Stier: Genau, ich will, dass die Schüler wertfrei erkennen, welche Schwächen und Probleme sie haben. Dann können sie geeignete Strategien suchen. Schön ist auch, dass gerade die Schwachen bald Fortschritte machen und sie in einem Säulendiagramm visualisieren können. Und sie sehen, dass auch die Leistungsstarken sich nicht immer richtig einschätzen.
Was wäre noch so ein Aha-Erlebnis?
Stier: Für einige Kinder ist überraschend, dass auch die Unterschätzung bei der Selbsteinschätzung nicht lernförderlich ist. Zunächst meinen sie, sie wären auf der sicheren Seite, wenn sie sich systematisch schlecht einschätzen, weil sie dann immer bessere Resultate erzielen als zuvor vermutet. Ein Aha-Erlebnis für alle ist, dass Erfolg und Leistung am individuellen Fortschritt festgemacht werden können und nicht (nur) am Vergleich mit anderen. Ein Mädchen mit Migationshintergrund, das sich bisher kaum zutraute, Texte zu durchdringen, erlebte an den Trainingstexten, dass auch sie drei bis vier richtige Hauptaussagen fand. Sie war selig.
Wie kommen die Kinder auf Lernstrategien? Werden auch abwegige Strategien vorgeschlagen? Was machen Sie dann?
Stier: Ich fand während des Forschungsprojekts nur wenig Zeit, um den Kindern dafür Raum zu geben. Sie waren sehr beschäftigt, die vorgegebenen Strategien zu durchdringen und zu üben. Aber ich fände gerade das wichtig: dass Kinder selber Strategien entwickeln und testen.
Wie gut konnten Sie die neue Methode über das Forschungsvorhaben hinaus im Unterricht anwenden?
Stier: Ich stieß aus strukturellen und organisatorischen Gründen schnell auf Grenzen. In der Grundschule gibt es sehr viele und vor allem rasch wechselnde Reformvorhaben, die man als Lehrerin meint einlösen zu müssen. Wir wollen zu viel gleichzeitig. Und die Kontinuität fehlt noch beim SRL. Nicht alle Kollegen schlossen sich der Maßnahme an, und die Kinder verließen die Grundschule wenige Wochen nach Abschluss des Trainings. Die weiterführenden Schulen kennen das Training und SRL noch nicht.
Hat das Vermitteln von SRL Ihr eigenes Arbeiten und Lernen verändert?
Stier: Ich ertappe mich nun häufiger bei Selbstüberschätzung und dass ich mein Vorgehen nicht rasch genug modifiziere, obwohl ich merke, dass meine Arbeitsweise nicht passt.