Balint-Gruppen sind Arbeitsgruppen von etwa acht bis zwölf Kollegen, die sich regelmäßig treffen, um über Problemfälle aus ihrem Berufsalltag zu sprechen. Ihren Ursprung hat die Arbeit nach Balint in der Medizin: Ärzte tauschen sich unter Anleitung eines Psychotherapeuten über die Beziehung zu ihren Patienten aus. Es geht dabei nicht um eine diagnostische Fallbesprechung. Ziel ist, die Beziehung zwischen Arzt und Patient zu verstehen und zu verbessern. Entwickelt hat die Methode der ungarische Arzt und Psychoanalytiker Michael Balint (1896 - 1970). Weil es viele Parallelen in der Beziehung zwischen Arzt/Patient und Lehrer/Schüler gibt, nutzen seit den 1970er Jahren auch immer mehr Lehrer die Balintgruppe.
BLLV: Herr Günzel, die Arbeit nach Balint gibt keine konkreten Tipps an die Hand, wie ich als Lehrer mit meinem Schüler umgehen soll. Was bringt mir dann dieser Austausch mit meinen Kollegen?
Norbert Günzel: Sinn ist, die eigene Wahrnehmung zu schulen. Wie nehme ich einen Schüler wahr – bewusst aber auch unbewusst.
Aber weiß ich das nicht längst? Ich nehme ihn oder sie eben als in irgendeiner Hinsicht problematisch wahr, sonst würde ich den Fall ja nicht besprechen wollen.
Das ist der Punkt, Sie wollen ja besser verstehen, warum das so ist. Und ob es nicht noch eine andere Perspektive gibt, durch die Sie wieder einen besseren Zugang zu Ihrem Schüler finden. Erst mal geht es darum, zu unterbinden, dass Sie ein schnelles Urteil fällen und mit einer schnellen Lösung bei der Hand sind. Beides ist sehr beliebt bei den meisten Menschen, und besonders bei Ärzten und Lehrern.
Wie läuft so eine Balint-Sitzung ab?
Pro Sitzung wird ein Fall besprochen. Derjenige, um dessen Fall es geht, erzählt von seinem Schüler – frei und spontan, kein vorbereitetes Referat. Im Anschluss geben die anderen Gruppenmitglieder Rückmeldung, was sie während der Schilderungen gedacht oder gefühlt haben. Daraus entwickelt sich ein facettenreiches Bild der Beziehung zu diesem Fall.
Und welche Gefühle stellen sich da ein? Unterschiedlich natürlich. Vielleicht sagt eine Kollegin, „als Sie das erzählt haben, wurde ich ärgerlich“ oder „hier musste ich schmunzeln“. Oder „der ist doch sehr originell, dieser Schüler“. Oft ist es ja so, dass am Anfang die Annahme steht: Dieser Schüler muss ein Miststück sein. Aber durch das Hinsehen und Hinspüren von Dritten, kommen andere Aspekte an die Oberfläche. Einmal hatten wir den Fall, dass ein Schüler seine Lehrerin unglaublich triezte. In der Reflektion in der Gruppe kam heraus, dass das wohl ein Werben war, weil er in seine Lehrerin verliebt war. Am Ende der Sitzung gestand die Lehrerin sich und der Gruppe ein, diesen Schüler auch ein wenig gern zu haben.
Das ist sicher nicht der häufigste Grund, warum es zwischen Lehrern und Schülern knirscht. Aber nochmal: Was bringen mir die Erkenntnissen aus der Gruppenbesprechung?
In dem Moment, wo sich ein Patient oder ein Schüler gesehen und erkannt fühlt, geht es ihm oder ihr schon sehr viel besser. Erst wenn sich mein Gegenüber nicht mehr abgelehnt fühlt, wird die Beziehung tragfähig. Ich selbst bin sehr organorientiert in die Medizin gestartet, habe dann aber gemerkt: Ich verstehe überraschend wenig von dem Menschen, der in dem Körper, den ich behandle, drinsteckt. So kam ich zur Psychosomatik und zur Psychotherapie.
Unterhalten sich Lehrer nicht ohnehin ständig mit ihren Kollegen?
Es bedarf schon einer gewissen Aufgeschlossenheit, damit Sie von einer Balint-Gruppe profitieren. Und Sie müssen sich wirklich für die Beziehung zu ihren Schülern interessieren. Das tun ja nicht alle Lehrer. Auch nicht alle Ärzte interessieren sich für das Verhältnis zu ihren Patienten. Beide Gruppen sind gewohnt, vor allem mit dem Kopf zu arbeiten. Sie tun sich schwer, ihre Sinne und Gefühle in Bezug auf den anderen wahrzunehmen. Das aber ist wichtig, um eine Beziehung überhaupt positiv gestalten zu können.
Also kann man Balint auch als Erweiterung des eigenen Instrumentariums verstehen?
Genauso ist es, und es schützt einen zugleich selbst vor Überlastung und Burn-Out, weil man auch für sich selbst ein besseres Gespür bekommen. Ich habe von einigen Lehrern gehört: „Balint? Brauch ich nicht, ich bin doch kein Weichei.“
Und, was sagen Sie dann?
Ich bin Arzt und hatte viele Lehrer bei mir in der Praxis – als Patienten. Denen hat meist sehr geholfen, einen Zugang zu ihrer weichen Seite zu finden. Mit Weichei-Sein hat das nichts zu tun. Im Gegenteil: Sich selbst und seine Beziehung zu anderen zu untersuchen und zu verstehen, kostet richtig Mut.
*Norbert Günzel , 74, ist niedergelassener Allgemeinarzt und Psychotherapeut in Roth bei Nürnberg. Einen seiner ersten Fälle in einer Balint-Gruppe untersuchte er 1973 auf einer Psychotherapietagung in Lindau. Erst ganz am Ende der Sitzung ergab sich aus einem Schweigen heraus ein völlig neues Bild der Arzt-Patienten-Beziehung des Kollegen. Den genauen Sachverhalt erinnert Günzel heute nicht mehr. Aber dieses Gefühl des Aufatmens, die Befreiung durch die neue Sichtweise – die ist ihm auch dreißig Jahre später noch präsent.