Mehr Bildungsgerechtigkeit

Beschluss der 55. Landesdelegiertenversammlung des BLLV vom 18.-20. Mai 2023

Die Bildungsungerechtigkeit ist ein seit Jahren ungelöstes Problem deutscher Bildungspolitik. Der IQB Bildungstrend im Herbst des vergangenen Jahres hat noch einmal deutlich gemacht, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nicht einmal die Basiskompetenzen erreichen, weiter wächst und dass die Schere zwischen Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern und denen mit sozial prekärem Hintergrund immer weiter auseinander geht. Zudem werden aktuelle gesellschaftliche Probleme schnell mit angeblichen Erziehungsdefiziten von Kindern mit Migrationshintergrund in Verbindung gebracht.

Kaum ein Zusammenhang ist im Bildungsbereich so gut erforscht, wie der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Deutschland schneidet hierbei im internationalen Vergleich seit Jahrzehnten besonders schlecht ab, denn hierzulande hängt der Bildungserfolg eines Kindes mit am Stärksten vom sozioökonomischen Hintergrund der Eltern ab. Kinder einkommens- und bildungsarmer Familien schließen ihre Bildungskarriere erheblich seltener mit Abitur oder gar Studium ab. Auch der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss ist bei ihnen besonders hoch.

Soziale Ungleichheit zementiert sich im Bildungswesen insbesondere durch das häusliche Umfeld und den Sozialraum sowie innerhalb des Bildungssystems durch sozial selektive Bildungsübergänge (insbes. von der Grundschule zur weiterführenden Schule), die zu einer segregierenden Zusammensetzung der Schülerschaft und unterschiedlichen Lernentwicklungen je nach Schulart führen. Bereits beim Schuleintritt ist der Kompetenzunterschied der Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft enorm und durch schulisches Handeln kaum mehr ausgleichbar. Der eindeutig nachgewiesene Zusammenhang einer strukturellen Bildungsbenachteiligung widerspricht sowohl dem Diskriminierungsverbot im Grundgesetz (Art. 3, Abs. 3) als auch dem Bildungsauftrag der Verfassung des Freistaats Bayern (Art. 132).

Soziale Benachteiligung und Armut sind häufig sozialräumlich konzentriert. Diese räumliche Segregation spiegelt sich auch an den Schulen vor Ort wider. Die Lehrerinnen und Lehrer an Schulen in herausfordernden Lagen werden mit massiven sozialen und pädagogischen Herausforderungen konfrontiert, denen sie allein unmöglich gerecht werden können. Politische Lösungsansätze müssen das Problem sozialer Ungleichheit deshalb in ihrer Gänze in den Blick nehmen, um langfristig Wirksamkeit zu entfalten.

Bildungsbenachteiligung entgegenwirken durch:

1. Frühe Förderung

Möchte man der strukturellen Bildungsbenachteiligung von Kindern erfolgreich entgegenwirken, so muss sichergestellt werden, dass jedes Kind Zugang zu früher Bildung erhält. In den Kindertageseinrichtungen erwerben Kinder durch frühkindliche Bildung und Erziehung bis zum Schuleintritt entsprechende Vorläufer- und Basiskompetenzen, die für den Schulbesuch vorausgesetzt werden, wie sie beispielsweise im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan beschrieben sind. Hierzu zählen insbesondere sprachliche, motorische, lernmethodische und selbstregulative bzw. sozial-emotionale Kompetenzen. Dies ist grundlegend für den weiteren Bildungserfolg und entscheidet maßgeblich über gleichberechtigte Entwicklungs-, Teilhabe- und Aufstiegschancen.

Kinder, die dennoch einen Förderbedarf aufzeigen, sollen durch geeignete Maßnahmen der Diagnostik und daraus resultierende passende ganzheitliche frühe Förderung in Kooperation mit den Familien sowie vorschulischen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen erhalten. Durch gezielte frühe Förderung in den ersten Lebensjahren können Kinder auch langfristig von höherer Bildungsbeteiligung und besseren beruflichen Perspektiven profitieren. Entsprechende Fördermaßnahmen müssen über die gesamte Bildungsbiografie hinweg durch ausreichend Angebote gewährleistet werden und fest etabliert werden können. Zwingend notwendig ist dabei auch eine entsprechende Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte, sodass diese sensibilisiert und in die Lage versetzt werden, Familien zu passgenauen Lösungen zu beraten.

2. Gezielte Unterstützungsmaßnahmen

Bildungs- und Erziehungseinrichtungen mit einem hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Lagen benötigen zwingend zusätzliche Ressourcen, um den damit einhergehenden Herausforderungen gerecht werden zu können. Dazu braucht es eine Budgetierung, die die soziale Zusammensetzung der Einrichtungen mitberücksichtigt (einrichtungs- bzw. schulscharfer Sozialindex). Bei der Berechnung der Ressourcen fließen verschiedene Faktoren mit ein, wie der Anteil von Kindern, dessen Eltern Transferleistungen empfangen, der Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache und der Anteil von Kindern mit diagnostiziertem Förderbedarf.

Zudem benötigen Schulen in herausfordernden Lagen weitere Unterstützung von außen, da sie bei den Problemen vor Ort häufig an ihre Grenzen stoßen. Hierzu braucht es Förderprogramme, auf die diese Schulen bei Bedarf zurückgreifen können, wie sie beispielsweise in anderen Bundesländern bereits existieren. Dort werden Schulen beispielsweise sowohl erhebliche zusätzliche Ressourcen als auch professionelle Strukturen der Schulentwicklungsberatung und -begleitung zur Verfügung gestellt. Derartige Programme müssen auch für die Schulen in Bayern geschaffen werden.

3. Abbau von Bildungsbarrieren

Das der Auslese zu Grunde liegende angebliche Leistungsprinzip dient der Legitimation sozialer Ungleichheit. Dass die Zuweisung der Schüler auf verschiedene Schularten auf Basis von deren Leistungsstärke erfolgt, wird durch zahlreiche Befunde widerlegt. So schicken bildungsferne Familien ihre Kinder seltener auf höhere Schulen als bildungsnahe, ohne dass die Schule dem entgegenzuwirken versucht. Das Wissen um die soziale Herkunft der Schüler beeinflusst die Schullaufbahnempfehlung der Lehrer entscheidend. Genauso ist der Zusammenhang zwischen der Bewertung von Schülerleistungen und dem Wissen um den sozialen Hintergrund der Schüler eindeutig belegbar. Je höher der soziale Status der Schüler liegt, desto besser werden identische Leistungen durch die Lehrkräfte bewertet. Jede institutionelle Barriere, die wir aufbauen, egal ob beim Übergang vom Kindergarten in die Schule oder zwischen den Schulformen, insbesondere beim Übertritt von der Grund- in weiterführende Schulen, behindert das Lernen und vergrößert die Chancenungleichheit. Diese strukturelle Diskriminierung nach sozialem Hintergrund muss reduziert und langfristig aufgehoben werden.

Ein Abbau der sozialen Selektivität des Schulsystems geht einher mit einer Neudefinition des Lern- und Leistungsbegriffs in Bildungseinrichtungen. Kinder benötigen für eine gesunde und erfolgreiche Entwicklung neben stabilen sozialen Beziehungen vor allem positive Selbstwirksamkeitserfahrungen und Erfolgserlebnisse, durch die sie ein starkes Vertrauen in ihre Fähigkeiten erhalten und lernen, dass sie durch entsprechende Anstrengung auch ambitionierte Ziele erreichen können. Lernen und Prüfen im Gleichschritt und eine vergleichende Kategorisierung der Leistungen in Form von Noten stehen dieser Art der Entwicklung und des Lernens nachweislich diametral entgegen. Deshalb muss dieses nicht mehr zeitgemäße Lern- und Leistungsverständnis in ein modernes ganzheitliches Lernen transformiert und in die Praxis umgesetzt werden, beispielsweise in Form von formativem Feedback, Lernentwicklungsgesprächen, Lerncoachings und Formen selbstorganisierten Lernens insbesondere mithilfe passgenauer Lernmanagementsysteme.

4. Sozialpolitische Reformen

Bildung alleine kann soziale Probleme nicht lösen. Familiäre Einkommens- und Bildungsarmut sowie sozialräumliche Segregation beeinflussen die Entwicklung von Kindern so massiv, dass alle Bemühungen zur Kompensation vergebens sind, wenn nicht auch langfristig diese sozialen Probleme gelöst werden. Die zunehmende soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft und die nach wie vor in hohem Maße vorhandene Familien- und Kinderarmut müssen mit allen politischen Mitteln bekämpft werden.

Der BLLV fordert deshalb:

  • Gezielte Förderung ab den ersten Lebensjahren: Benachteiligte Kinder und Jugendliche müssen über alle Lebensphasen sowie Bildungs- und Erziehungsinstanzen hinweg gezielt gefördert werden. Hierzu bedarf es neben einer Sensibilisierung pädagogischer Fachkräfte auch entsprechende Ressourcen insbesondere für sozial- und integrationspädagogische Arbeit sowie Fördermaßnahmen. Allen betroffenen Institutionen müssen zudem zusätzliche Budgets für Eltern- und weitere Kooperationsarbeit zur Verfügung gestellt werden.
  • Sozialindex: Schaffung eines Sozialindex als Grundlage der Schulbudgetierung für Bayern, der schulscharf nach den Gegebenheiten vor Ort entsprechend der sozioökonomischen Zusammensetzung der Schülerschaft kompensatorische Ressourcen in das feste Budget der Einzelschule einfließen lässt (vgl. Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen).
  • Unterstützungsprogramme: Schaffung wirksamer Unterstützungsprogramme für Schulen in besonders herausfordernden Lagen, die darauf abzielen, die betroffenen Schulen in ihrer Schulentwicklung positiv zu beeinflussen und hierzu ausreichend Ressourcen sowie eine Unterstützung in Form einer professionellen Schulentwicklungsberatung und -begleitung zur Verfügung stellen.
  • Längeres gemeinsames Lernen: Beseitigung der strukturellen Diskriminierung durch soziale Selektionsmechanismen im Bildungswesen mithilfe eines längeren gemeinsamen Lernens über deren Form in der Sekundarstufe die Schulen vor Ort in enger Zusammenarbeit mit der Kommune eigenverantwortlich entscheiden können.
  • Positive Lern- und Selbstwirksamkeitserfahrungen: Schaffung von Rahmenbedingungen, die im Hintergrund eines zeitgemäßen lernförderlichen Lern- und Leistungsverständnisses positive Selbstwirksamkeits- und Lernerfahrungen ermöglichen (z.B. durch formatives Feedback). Das Lernen im Gleichschritt und der Fokus auf Noten als primärer Beurteilungsmaßstab müssen in Anbetracht ihrer negativen Effekte auf das Lernen hinterfragt werden.
  • Sozialer Ungleichheit mit allen Mitteln entgegenwirken: Es braucht sozial-, wohnungs- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die einer sozioökonomisch geprägten sozialräumlichen Segregation und damit der Konzentration sozialer Benachteiligung entgegenwirken.